Tanzmäuse
Helga Rougui
Ein plötzlicher, heftiger Platzregen. Und der frühe Bus war sowieso weg.
Mist.
Gina seufzte und floh vor der sich entfesselnden Sintflut in das nächstgelegene Geschäft.
Die Buchhandlung „Der Lesebaum“.
Na, wenn sie schon mal hier war, dann konnte sie sich auch umsehen. Und sie brauchte ja sowieso ein Geschenk. Warum eigentlich nicht ein Buch?
Der Buchhändler schaute sie aufmunternd an.
Aha, ein Gedichtband. Mal gucken, vielleicht war das ja was?
tanz auf dem vulkan…äh…herd
manno hab ich heiße füße
wie du heißt füße?
nee ich heiß nicht füße
ich hab sie die heißen füße
zuviel getanzt letzte nacht
die socken qualmen noch
ja du bist ja auch eine blöde maus
warum musstest du auf die heiße herdplatte klettern
manno laß mich doch in ruh
ich geh mir jetzt die füße kühlen
okee und ich mach uns nen heißen
tee
Gina klappte das Büchlein zu und legte ihn auf den Stapel zurück. (Ein sehr hoher Stapel im Gegensatz zu den ihn umgebenden. Der Titel lief wohl nicht so gut.)
Also nein, dieses Gedicht, was für ein Nonsens. So was konnte sie Robert nicht schenken. Jemand, der Robert hieß, las bestimmt nicht so einen Unsinn. Aber woher wollte sie das eigentlich wissen. Und immerhin hatte es was mit Tanzen zu tun.
Robert aus dem Nachbardorf.
Robert und sie.
Sie kannte ihn kaum, einmal waren sie zusammen ausgegangen, erst in den „Schrillen Gockel“ zum Schnitzelessen (die hatten da sechzehn verschiedene Sorten, alle möglichen Variationen vom Garten- über das Hotzenplotz- bis zum Piemontschnitzel, verrückt so was), und dann waren sie tanzen gewesen im „Brennenden Heuschober“ - ein schlecht gewählter Name für eine Disco auf dem platten Lande, wie Gina fand.
An dem fraglichen Abend jedoch brannte der Schuppen in der Tat lichterloh – glücklicherweise im übertragenen Sinne: hier gabs die heißeste Musik im Umkreis von fünfzig Kilometern mitten im Landpomeranzenland, und so hatten Robert und sie einen rotglühenden Abend verbracht. Endlich mal ein Mann, der tanzen wollte, und zwar pausenlos. Robert gehörte nicht zu den Eckenstehern, die sich, eine Zigarette nach der anderen paffend, über die Verrenkungen der lieben Mitmenschen lustig machten – nein, er verrenkte sich selber, und zwar gar nicht schlecht, wie sie festgestellt hatte.
Seufzend nahm sie den Gedichtband wieder in die Hand. Robert hatte ihr drei Blue Moon-Cocktails ausgegeben, und das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie revanchierte sich gern. Vielleicht war sie auch deshalb immer noch Single. Aber darüber wollte sie jetzt nicht weiter nachdenken.
Sie kaufte das Büchlein und verließ die Buchhandlung. Der letzte Bus nach Braunfels ging um 18 Uhr 40, und sie hatte keine Lust, per Anhalter durch die Gegend zu fahren.
Sie saßen sich gegenüber in der Imbißbude, es mußte ja nicht immer Schnitzel sein. Robert hatte das kleine Päckchen ausgewickelt und saß nun da mit dem Buch in der Hand. Leicht betäubt, wie ihr schien. Sie schaute ihn forschend an. Gefiel es ihm oder nicht?
- Das ist wirklich lieb von dir, Gina. Das hätte wirklich nicht sein müssen. Wirklich, ich weiß gar nicht, wofür das sein soll.
Die dreimalige Wiederholung des Wortes „wirklich“ störte sie etwas. Wirklichkeit hatte sie genug unter der Woche bei ihrem Job als Kassiererin im Konsum-Markt, das Wochenende war den Träumen und der Romantik gewidmet – und dem Tanzen natürlich.
Deshalb war sie froh, als er fortfuhr:
- Okee, komm, laß uns weiterziehen, in Solms gibts heute abend eine Tanzveranstaltung von der Evangelischen Gemeinde, und ich hab das Auto meines Vaters – also, hättest du Lust?
Keine Frage, natürlich hatte sie Lust. Tanzen war ihr Liebstes, egal von welcher Kirche ausgerichtet.
Im Auto legte er das Buch ins Handschuhfach.
Und da konnte sie es die nächsten Wochen und auch Monate liegen und langsam Staub ansetzen sehen. Manchmal hatte sie das Gefühl, als ob es sie höhnisch angrinse - das war natürlich Quatsch - aber sehr bald hatte sich bei ihr der unangenehme Verdacht verfestigt, sie habe mit ihrem Geschenk einen Griff ins Klo getan. Konnte er etwa nicht lesen? So ein Unsinn, er hatte eine abgeschlossene Lehre als Friseur, da hatte man die Berufsschule besucht.Und er hatte Bücher bei sich zu Hause stehen. Konsalik und so. Die hatten doch nicht nur seine Eltern gelesen.
Sie redeten selten über irgendwas, sie gingen tanzen und nach einer Weile auch ins Bett miteinander und waren glücklich.
Nur das Buch im Handschuhfach störte Gina. Unberührt lag es da, ungelesen. Und es war doch nur eine erste, tastende Geste in seine Richtung gewesen.
Und es bekümmerte sie, daß sie offensichtlich damit völlig falsch gelegen hatte.
Eines Tages – sie waren schon zwei Jahre zusammen gegangen – fuhr Robert in einem DKW 1000 SP Cabrio vor, um sie abzuholen. (Es gab einen Tanzmarathon, ausgerichtet von der Fleischerinnung in Leun, und da wollten sie hin.) Sie stieg ein und fragte sofort:
- Wo hast du denn den Wagen her? Und wo ist das Auto von deinem Vater?
- Das hier ist meiner, nagelneu, grinste er zufrieden, nachdem sie das obligatorische Begrüßungsküßchen getauscht hatten, das Auto meines Vaters brauchen wir jetzt nicht mehr. Isser nicht schön, der Wagen? Und dieses elegante Froschgrün der Ledersitze, das macht sich richtig gut mit deinem pinken Kleid, nicht wahr?
Das fand sie nun wiederum nicht, und es entspann sich eine rege Diskussion über Männer im allgemeinen und ihre Treffsicherheit in Geschmacksfragen im besonderen, und mitten in einem besonders prächtigen Argument blieb ihr plötzlich die Spucke weg. Sie verstummte.
Das Büchlein war da.
Es lag im Handschuhfach, wie immer während der letzten zwei Jahre.
Es schien, als ob er es sogar abgestaubt hätte.
Also lag ihm doch was dran, oder etwa nicht?
Sie heirateten ein Jahr später, bekamen zwei Kinder zusammen, sahen diese Kinder aufwachsen, zur Schule gehen und studieren, denn aus denen sollte was Richtiges werden, und aus dem einen wurde ein Generalbundesanwalt und der andere starb im Alter von dreißig Jahren an Aids.
Sie standen alles zusammen durch, die guten wie die schlechten Tage, und während ihrer ganzen Ehe gingen sie regelmäßig tanzen, zu ihrer beider Freude und um den Widrigkeiten des Lebens zu begegnen. Während der Jahre änderten sich die Örtlichkeiten, aus den Discos wurden Tanztees, aus dem Rockgehopse Gesellschaftstanz (sie hatten zusammen einige Kurse in einer Tanzschule absolviert, und er war der einzige Mann gewesen, der nicht von seiner Frau dorthin geschleift worden war), sie wurden älter und fetter und blieben doch beweglich und tanzten sich durchs Leben.
Und natürlich gab es auch in regelmäßigen Abständen neue Autos, und Robert hatte stets einen treffsicheren Geschmack, und die Sitze waren entweder lapislazuliblau oder resedafarben, aber immer paßte ihr Outfit und in späteren Jahren ihre Kleidung nicht richtig dazu. Was Anlaß zu den üblichen, inzwischen fast rituellen Diskussionen gab.
Aber das Wichtigste bei jeder ersten Fahrt, die sie mit dem neuen Auto machten, war ihr Blick ins Handschuhfach.
Und es lag da, das Büchlein, als säßen sie immer noch im Auto seines Vaters und als hätte er es gerade dorthin gelegt.
Im Laufe der Jahre hatte sich bei Gina hinsichtlich des Büchleins neben all ihren raum- und zeitfüllenden Familienaktivitäten eine sehr verschwiegene Besessenheit entwickelt. Als sie schon einige Jahre verheiratet gewesen waren, war sie eines Tages wieder in die Buchhandlung „Der Lesebaum“ gegangen und hatte sich das gleiche Bändchen noch einmal gekauft (die restlichen Exemplare, und da gab es noch einige, waren inzwischen in eine stille Ladenecke umgezogen), und dann hatte sie ab und an - je nachdem, wie das Alltagsleben es ihr gestattete - in diesem Gedichtband gelesen.
Zuerst fand sie die Gedichte, die eher Minitexte waren, seltsam, dann eigentlich ganz hübsch und immer noch seltsam, dann fand sie sie witzig und begann sie zu lieben, und nach und nach, durch die Jahrzehnte hindurch, konnte sie all diese Gedichte auswendig, lebte mit ihnen und amüsierte sich mit ihnen in ihrem Alltag auf ihre Weise. Und immer schien ihr, als wäre sie, wenn sie in ihrem Kopf herumwanderten, mit ihrem Robert auf ganz besondere Weise verbunden, und das schrieb sie diesen ersten Umständen zu, unter denen sie das Büchlein erworben und verschenkt hatte.
Es kam der Tag, an dem alles, so wie es gut gewesen war, zu Ende ging.
An einem Abend kurz vor Ostern saßen sie gemeinsam vor dem Fernseher. Sie freuten sich auf den Besuch ihres Sohnes mit seinen fünf Kindern, der für Ostersonntag avisiert war, und diese ihre Enkel würden sie locker wegstecken dank des Tanztees im benachbarten Altersheim am Ostersamstag zuvor, an dem sie wie jedes Jahr selbstverständlich teilnehmen würden und der sie für die jugendliche Meute stählen würde, die sie über alles liebten.
Und plötzlich klagte er über ziehende Schmerzen in der Brust, und als die Übelkeit überhandnahm, waren sie bereits im Krankenwagen auf dem Weg zur Klinik, und nun, nach sechundvierzig Jahren Ehe faßte sie sich ein Herz und fragte ihn:
- Ich weiß, mein Schatz, es gibt keinen unpassenderen Zeitpunkt, aber ich muß es wissen – warum hast du das Gedichtbändchen, das ich dir zu Anfang unserer Liebe geschenkt habe, das in jedes neue Auto mitgewandert ist, nie gelesen?
- Mein Liebling, du weißt nach so langer Zeit noch nicht alles von mir. Ich brauchte es nicht zu lesen, ich kannte es bereits. Ich habe es geschrieben.
die maus im hemd
sie tanzt und tanzt
mit heißen pfoten auf dem herd
sie tanzt und tanzt
und
irgendwann
tut sie den letzten sprung
ihr kleines heißes herz zerspringt
sie hat das leben so geliebt
Mein ist die Rache, sagt das Gehirn
Jo Jo Effekt
Helga Rougui
Wenn ich wüsste, ob ich Männlein oder Weiblein bin, würde ich uns am liebsten entweder zusammenschlagen (Männlein) oder unauffällig vergiften (Giftmord sei Frauensache, sagt man). Aber ich bin sozusagen divers, mein bestimmter Artikel ist „das“, und ich habe weder Fäuste noch eine zarte Hand zum Dosieren tödlicher Tropfen.
Belladonna, zum Beispiel. Schöne Frau.
Ja, schön waren wir einmal, damals, vor Monaten, als ich noch diesen Körper beherrschte, der sich, in weite, bequeme Kleidung gehüllt, wohlgerundet und weich in Sofas schmiegte, vor dem Kamin im Sessel kuschelte, sich träge auf Strandlaken räkelte. Immer ein feines Gläschen Chardonnay in Reichweite, ein Tellerchen Petits Fours daneben, wahlweise ein gut durchdachtes Käsesortiment oder eine Pfirsich-Apfelsinen-Sahnetorte zum alleinigen Verzehr. Des Abends ließen wir uns drei Räder Pizza kommen oder besuchten ein bayerisches Restaurant, wo es von Schmankerln nur so wimmelte. Wir verschmähten keines.
Das waren glückliche Zeiten.
Die stets ausreichend mit Dom Pérignon begossen wurden.
Und heute?
Heute ist mir nur noch schlecht.
Daran sind die zurückliegenden sechs Monate schuld.
Nach einem winzigen Bauchgrimmen und einem noch winzigeren komatösen Zusammenbruch – und eigentlich ging es uns schon wieder ganz gut – kam dieser Halbgott in Weiß und verkündete die neue Heilslehre.
Es ging in dieser Botschaft viel ums Überleben, um das metabolische Syndrom, um Maßhalten und Brokkoli, um Dauerlauf und Ernährungsumstellung und die Heilkraft natürlichen Quellwassers und was dergleichen Gehirnwäschegedöns mehr sind.
Ja, so war es. Ich wurde gewaschen.
Gereinigt von Gelüsten nach Weißbrot, Sahne, Zucker, Leberwurst, Maibowle, Döner und Co.
Man vergewaltigte mich mit Skyr, Intervallfasten, Weight Watchers, Fitnesstudios, Waldläufen, Brennesseltee und Magerquark.
Es kam, wie es kommen musste. Angesichts dieser offensichtlichen Hungersnot war ich gezwungen, unsere Fettreserven anzugreifen, und als die sich gefährlich leerten, ging es an die Muskelmasse.
Die Materie, über die ich herrsche, wurde dünner und dünner und schwächer und schwächer.
Und mit ihr – auch ich.
Und nun bin ich am Ende. Wie gesagt, mir ist nur noch schlecht. Schlecht vor Hunger.
Und mir reichts. Ich werde mich rächen für diese miese Behandlung.
Zur Vorbereitung meiner Rache habe ich bereits angefangen, sämtliche geistigen Funktionen auf ein Minimum zu reduzieren. Das fällt auf in der Werbebranche, in der ich mich beruflich tummele. Ich produziere gerade kaum kreative Gedanken und im Team bin ich der Tod eines jeden Storming.
In der Freizeit habe ich es bereits geschafft, dass wir nur noch blöde Kurzvideos auf TikTok gucken können, zum Lesen von Zeitungen oder Büchern reicht die Energie nicht mehr aus.
Aber jetzt kommt die ultimative Haupt-Offensive.
Ich werde meine letzten Reserven zusammenkratzen und in meinen Erinnerungsarchiven kramen, die Bilder, die ich dort finde, mit dem Gierzentrum verbinden und uns damit beballern, bis ich vor lauter Schweinshaxe, Currywurst, Pizza Hawai, Sachertorte, Spaghetti Carbonara, Windbeutel, Streuselkuchen nicht mehr schlafen kann.
Quälen werde ich uns, bis alle guten Vorsätze dahin sind und bis wir schwachwerden und wieder alles essen, was dazu dient, die Hungersnot zu besiegen. Darüber hinaus gilt es, einer Wiederholung vorzubeugen durch ein paar saftige Kilogramm Übergewicht mehr auf den Rippen.
150 Kilo seien diesmal das Zielgewicht.
Meine Rache für die mageren Zeiten wird fürchterlich sein.
Die Erfindung der … Raten Sie mal!
Helga Rougui
Die Marquise schaute missgestimmt zu, wie die Kammerzofe ihr die langen Haare straff nach hinten kämmte und anschließend oben auf dem Kopf zu einem festen Knoten zusammendrehte. Ihre Abendrobe trug sie bereits. Doppelt breiter Reifrock, mehrere Lagen Unterröcke, ein Überrock aus lila Seide mit weißen Spitzenbordüren, ein enges Leibchen, tief ausgeschnitten - auf ihrem üppig nach oben gedrückten Dekolletee hätte man ein Gläschen Hypocras bequem abstellen können.
Auf dem Gestell neben dem Frisiertisch wartete bereits die Perücke, hoch aufgetürmtes graugepudertes echtes Menschenhaar, reich mit Juwelen aus dem Familienschatz geschmückt, und, als ob der Haarturm noch nicht hoch genug gewesen wäre, thronte obenauf, sozusagen als hutartige Kopfbedeckung, eine Fregatte unter vollen Segeln, fein ausgearbeitet bis in jede Einzelheit. Kleine Kanonen lugten aus den Schießscharten beiderseits, Matrosen arbeiteten auf dem Oberdeck, und – die Marquise kniff leicht die Augen zusammen – unterhielt sich da nicht der Kapitän mit Poseidon höchstselbst? Der König der Meere war wirklich gut gelungen, leicht zu erkennen an seiner Strahlenkrone und dem goldenen Dreizack, den ihm der Perückenmacher in die Faust gesteckt hatte.
Die Marquise seufzte. Das war ja alles ganz nett, aber das Gewicht! Das Gewicht! Den ganzen Abend würde sie dieses Ungetüm auf dem Kopf balancieren müssen. Ihr taten jetzt schon die Schultern weh. Und der Rücken auch. Und dann das Bankett. Der Gedanke daran ließ sie noch unwirscher gucken. Sie durfte auf keinen Fall ihr Speisemesser und ihren Löffel vergessen. Sonst würde sie wieder wie neulich mit den Fingern essen müssen. Das war zwar nichts Besonderes, aber mit den Speisewerkzeugen lief der Nahrungsaufnahmeprozess doch etwas weniger feucht und schmierig ab. Und auch da ließ sich die eine oder andere unangenehme Panne nicht vermeiden. Letztens zum Beispiel hatte sie versucht, mit ihrem Messer ein Stück Kaninchenbraten in Pilzsoße aufzuspießen, das aber war abgerutscht und hatte auf der blütenweißen Tischdecke reichlich Soße verspritzt. Also hatte sie es mit den Fingern ergriffen und auf ihren Teller bugsiert, und während sie daran herumsäbelte, musste sie das Fleischstück natürlich gut festhalten, so dass ihre Finger den ganzen Abend klebrig waren und nach Pilzen rochen, und ein Kartenspiel hatte sie dann auch noch mit Flecken versehen und wäre beinahe des Falschspiels bezichtigt worden.
Am besten, dachte sie, sollte ich so tun, als wäre ich schon satt. Oder hielte Diät. Oder hätte Bauchweh.
Aber ich habe doch so einen Hunger, dachte sie weiter. Das Frühstück – eine heiße Schokolade, eine Scheibe Herrenbrot mit Butter, war schon eine Ewigkeit her.
Inzwischen war die Perücke in ihrem Echthaar fest verankert, die Marquise stopfte das Etui mit Messer und Löffel in die Tasche unter ihrem Überrock, und alsbald reihte sie sich ein in die Schlange der Mitglieder der Hofgesellschaft, die stetig dem festlich gedeckten Tisch im Blauen Saal zueilte.
*
Die Marquise hatte die wohlgefüllten Schüsseln und Platten des ersten Ganges gut bewältigt, Pastetchen, gebackene Küchlein, Eingelegtes waren auf ihrem Teller und dann ihrem Mund gelandet, und nun hielt sie Ausschau nach den Fleischplatten des zweiten Ganges, die soeben aufgetragen wurden. Ein feistes Spanferkel, knusprig braun gebraten, landete direkt vor ihrer Nase.
Wie schön, dachte die Marquise, das mag ich sehr. Sie nahm ihr Messer und versuchte ein kräftiges Stück Fleisch aus dem Bauch des Tieres herauszuschneiden. Aber es kam, wie sie es befürchtet hatte, das Messer drang nicht recht durch die dicke Kruste, der Braten begann leicht zu verrutschen und sozusagen zurückzuweichen vor den Avancen der hungrigen Dame. Abhilfe konnte jetzt nur ein fester Griff schaffen, der die Sau am Wandern hindern und dem Messer ein Gegengewicht verleihen würde.
Die Marquise verdrehte die Augen. Nicht schon wieder. Das heiße Fleisch anpacken, Soße an den Fingern, das ganze Gedöns wie gehabt. Dazu hatte sie nun überhaupt keine Lust. Sie lenkte ihren Blick auf die daneben stehende silberne Schüssel mit buttrigen grünen Bohnen. Sollte sie sich mit Gemüse zufrieden geben? Sie konnte sehen, wie sich in der silbernen Fläche ihr Gesicht spiegelte – hatte sie nicht schon ganz hohle Wangen vor Auszehrung?
Aber da fiel ihr noch etwas ins Auge – ihr Kopfputz hoch oben auf der Perücke. Und da kam ihr blitzartig eine Idee.
Sie langte nach oben, tastete eine Weile auf dem Schiff herum, bis sie bei der Kapitänsbrücke angelangt war.
Und griff zu und zog.
*
So in etwa könnte es doch gewesen sein?
Stiel – Schiff – Zinken!
Passt doch!
Wo ist Minchen?
Helga Rougui
Onkel Ewald lehnte sich im Sessel zurück, zog Antje, die Mutter aller Jagddackel, auf seinen Schoß und begann genüßlich an ihren Zitzen herumzupressen.
- Milchstau, erklärte er der gleichermaßen erstaunten wie erstarrten Verwandtschaft rundherum, eingebildete Schwangerschaft. Da haben die schon mal Milchstau. Muss man ihnen helfen.
Er tauchte den Finger in sein Whiskyglas und ließ Antje daran nuckeln.
- Mag sie gerne - betäubt ihre Schmerzen.
Mein Papa lehnte sich ebenfalls zurück und zündete sich eine Zigarette an. Schön gepflegt im Filter, orientalischer, leicht süßlicher Tabak. Er schaute mich an, kniff mir ein Äugsken und ich wusste – wenn die Verwandten weg wären, hätte ich ein Anrecht auf einige bissige Kommentare über Finger, die an Zitzen herumknibbelten und anschließend in Whiskygläser fuhren, der dann natürlich noch getrunken wurde. Nicht, daß wir pingelig gewesen wären in der Familie. Auf einer unserer Italienreisen, in Potenza, fiel dem Wirt vor unseren Augen das zu servierende Brot auf den Boden, und wir schauten mit großen Augen, wie er es geschmeidig aufhob und ins Körbchen legte und uns an den Tisch brachte. Und wir aßen dieses Brot und lachten uns kaputt dabei.
So lernte der Deutsche der Sechziger auf Reisen seine Pimpeligkeit zu verlieren. Und die folgenden Jahrzehnte hieß es bei uns, immer wenn einem von uns ein Lebensmittel auf den Boden fiel: „potenzanische Sauberkeit“- und wir hoben es auf und aßen es.
Aber ich schweife ab.
Genau wie mein Onkel an jenem Abend, einem Heiligabend in den Siebzigern, als wieder einmal die ganze Familie zusammengekommen war – damals noch vollständig und nicht durch gräßliche Krankheiten dezimiert, von denen wir uns damals noch keine Vorstellung machten.
Wie immer hatte meine Mutter viel zu viele Steaks gebraten, riesige weich verlaufende Klöße hergestellt, mehrere feiste Mayonnaisesalate entdeckelt – es gab Kleinigkeiten zum Knabbern, für meinen Vater eine Platte mit Bratwürsten, da er Steaks nicht mochte, es gab mehrere immense Brocken schönen fetten Käses, da waren Wurst- und Schinkenplatten, wie man das aus Hessen, der Heimat meiner Eltern, gewohnt war, es gab Räucherlachs in Kilogrammlagen und natürlich mehrere Sorten Brot und Brötchen mit Butter, Mixed Pickles, Gürkchen und Töpfe mit Herings- und Fleischsalat.
Es hätte ja sein können, daß wir ohne all diese Nahrung verhungert wären bis zum Weihnachtsmittagessen am ersten Weihnachtsfeiertag, wo meine Mutter trditionell eine riesige Pute briet. Unbezwingbar schien uns das Tier und wir aßen daran vierzehn Tage lang, und ich erinnere mich an an das strahlende Gesicht der Köchin, die hinter dieser Pute thronte und sich freute, daß sie nie mehr wieder würde hungern müssen nach dem elenden Krieg, der Körper und Geist bis auf das Minimum ausgepresst hatte.
Aber ich schweife ab.
Also, wir saßen am Heiligabend nach dem Abendessen beisammen, die Kusinen tranken Eierlikör, mein Vater sein Bier, meine Oma tat in ihren Amselfelder ein wenig Süßstoff, da er sonst zu sauer wäre, meine Schwester und ich freuten uns an dem Rotwein, den wir uns selber mitgebracht hatten, da fing mein Onkel plötzlich an, von seiner Jagd zu erzählen.
Mein Onkel war ein begeisterter Jäger, er hatte sein Haus und seine Firma im Sauerland, und dort hatte er auch eine Jagd gepachtet, und neben seinem Boot und seinen Aquarien war es sein liebstes Hobby, sein Glück bei dieser Art Sport zu versuchen.
So auch eines Tages im letzten Herbst, so erzählte er, als er wieder einmal losgezogen war, um ich weiß nicht welches Tier, das gerade nicht unter Jagdschutz stand, zu erledigen. Ich glaube, es drehte sich sogar nur um Kaninchen, und die durfte man immer, während es bei Rehen und ähnlichem Getier doch gewisse Beschränkungen gab? - nun, er zog los, in den Wald, und es raschelte im Unterholz – er legte an, zielte und drückte ab, und das Kaninchen war erlegt und Antje, der Profidackel, apportierte – doch leider kein Kaninchen, sondern Felis catus, die gemeine Hauskatze, und das war nun keine Beute, die man zum Mittagessen braten konnte. Sicher kam sie aus dem an die Jagd angrenzenden Wohngebiet und sah sich nun durch die Tat meines Onkels in ihrem Morgenspaziergang abrupt unterbrochen.
Und ich sah, während mein Onkel seine Anekdote erzählte, in meiner Schwester Gedanken in Leuchtschrift das Wort „Katzenmörder“ aufblinken, und sie dachte laut in ihrem Geiste: „…die arme Katze!!!“. Meine Schwester liebt die Tiere mehr als die Menschen, und in diesem Moment hätte sie lieber meinen Onkel tot gesehen als die Katze.
Nun war aber die Katze tot, und mein Onkel sagte, er bedauere den Vorfall, denn er wolle ja nun nicht eigentlich Katzen jagen und das ganze sei ein Irrtum gewesen und tue ihm leid, nur sei er halt ein begnadeter Schütze, der das Jägerhandwerk vollendet ausführe mit meist letalem Ausgang für die Beute - wenn sich etwas im Unterholz bewege, lege er an und habe fast stets Erfolg, aber leider habe diesmal sowohl die Katze als auch er Pech gehabt, wegen des fehlenden Sonntagsbratens.
Was in meiner Schwester in diesem Moment für ein Film ablief, ich möchte ihn nicht gesehen haben. Ich liebe keine Filme mit Gewalttätigkeiten.
Aber die Geschichte, die mein Onkel erzählte, ging weiter.
Einige Tage später, als er - diesmal ohne Gewehr und aus anderem Grunde - wieder zu seinem Wagen ging, der in der Nähe seiner Jagd abgestellt war, traf er eine Frau, die in der Siedlung wohnte und die ihn fragte, ob er denn ihre Katze gesehen habe. Sie suche bereits seit einigen Tagen nach ihr und Minchen sei noch nie so lange fortgewesen und sie mache sich inzwischen große Sorgen.
Und da gäbe es ja immer auch die Jäger hier in der Gegend, die gar nicht darauf achteten, was sie da nun letztlich erlegten, Hauptsache Schuß und Treffer und Beute, nicht wahr. Sie schaute meinen Onkel mit tränenfeuchten Augen an und sagte, hoffentlich geht es meinem Minchen gut, ich vermisse sie so sehr, es ist immerhin schon die vierte Katze, die nicht mehr nach Hause gekommen ist.
Mein Onkel erwiderte, ja, diese Jäger seien tatsächlich furchtbar rücksichts- und skrupellos, und ihrem Minchen gehe es sicher gut, und dass sie ganz bestimmt zurückkommen werde.
Diese Entwicklung fand meine Schwester nun ganz furchtbar - „… die arme Frau!!“ - sie hatte ihre Katze, ihr Ein und Alles, verloren, und das auch noch zu wiederholten Malen, und darüber hinaus hatte sie vertrauensvoll und ahnungslos mit dem Mörder mindestens einer ihrer Lieblinge gesprochen, der ihr kaltschnäuzig sein Mitgefühl vorgeheuchelt hatte.
Auch die Erklärung meines Onkels, daß Katzen sich nun mal im Wald nicht frei bewegen dürften und besser über einen bestimmten Umkreis um bewohntes Gebiet herum nicht hinausgingen, daß sie im Wald den Jungvögeln gefährlich würden und demnach als schädliche Wilderer anzusehen seien, fruchtete nichts.
Für meine Schwester war der Abend gelaufen – sie hatte sozusagen „Katzenjammer“ in einer speziellen Variante.
Mein Vater aber zog versonnen an seiner Zigarette, schaute den Rauchkringeln nach und grinste sich eins.
Und ich wußte, unsere unentwegt mündlich tradierte Familienchronik war wieder um eine demnächst mit spitzer Zunge zu erzählende Geschichte reicher, dank der tödlichen Technik eines fehlgeleiteten Jagdgewehrs.
Ein Bericht
Helga Rougui
Warum die Erde nie von (sehr winzigen) Außerirdischen besiedelt wurde.
Ein Bericht.
Sie landeten weich, zu weich für des Kommandanten Geschmack.
Aber um den Geschmackssinn ging es gar nicht, nein, ein intensiver Gestank nach Kacke verbreitete sich im Flieger HX2o0, so daß sämtliche Geruchssinne voll beschäftigt waren. Hero von Leander, der rauschebärtige Kommandant, fluchte laut – was ist das für ein Navigationssystem, das uns ausgerechnet in kackeähnlicher Masse landen läßt? - und wie groß muß ein Hund, so es denn ein Hund war, auf diesem kürzlich frisch georteten Planeten sein, um solch einen Riesenhaufen zu hinterlassen?
Das eher kleine Häuflein Abenteurer, Beutelschneider, Intriganten, Nymphomanen und sonstige verurteilenswerte Kleinkriminelle scharte sich um seinen Anführer, und alle zusammen bewegten sich zur Einstiegsluke, die jetzt eine Ausstiegsluke wurde. Die Gasmaskenrüssel baumelten vor ihren Gesichtern, dankenswerterweise milderten sie die infernalischen Dämpfe soweit ab, daß wenigstens sehr, sehr flach geatmet werden konnte.
Über das Aussteigemanöver hat das Sterntagebuch der HX2o0 kein einziges Wort verloren, allein eine spätere Notiz in ihren Bestellformularen - " Komplett neue Anzüge plus Gasmasken in Neonrosa für die gesamte Besatzung" - ließ erahnen, welch apokalyptisches Ausmaß die erste Begehung des neuentdeckten Planeten gehabt haben mußte.
Insgesamt handelte es sich um einen sehr kurzen Ausflug, keiner hatte, da auch die Sichtfelder der Helme in Nullkommanix völlig verschmiert waren, so recht was wahrnehmen können. Also wurde zum Rückzug geblasen und die HX2o0 steuerte die nächste intergalaktische Waschstraße – natürlich mit Innenraumreinigung - an, bevor ihr Kommandant auf dem Heimatplaneten einen sehr leisen Bericht erstattete.
Frisch gewaschen und umfassend ausgerüstet machte sich die Mannschaft ein zweites Mal auf den Weg.
Das Navi wurde so programmiert, daß es unbedingt auf einer festen Fläche zu landen hätte, und alles funktionierte diesmal soweit ganz prächtig. Eine sehr weiße, glitzernde Landebahn kam in Sichtweite, als die HX2o0 sich aus dem Extraplanetohoppsermodus materialisierte, vorsichtig setzten die Füßchen des Fliegers auf und – kwischschschtttttt – rutschte er wie ein Eiskegel mindestens dreißig Zentimeter die halbgefrorene Pfütze entlang, um in einer kleinen bitterkalten Restwasserlache zum Stehen zu kommen. Die Crew und ihr Kommandant, die sich auf der Brücke versammelt hatten, begutachteten die bläuliche, eintönige Fläche, die kein Ende zu nehmen schien. Das Sterntagebuch verzeichnete, dass ein Kundschafter ausgesandt wurde, der, als er sich durch die Ausstiegsluke hatte auf den Boden fallen lassen, sofort an beiden Stiefeln festgefroren dastand und keinen Schritt vorwärts tun konnte. Also warf man ihm ein Seil zu und zog ihn wieder ins Innere. Zurück blieben zwei mit der Eisfläche verwachsene Stiefel und ein pinker Socken mit blauen Punkten, der sich in dem einen der Gehwerkzeuge verhakt hatte.
Auch dieser Bericht des Kommandanten bei der ODB fiel sehr, sehr leise aus.
Die ODB, die Oberste Discovery Behörde, war sich nach diesen zwei Versuchen langsam aber sicher nicht mehr sehr sicher, ob es sich lohne, einen solchen Planeten, der sich ihnen gegenüber so unfreundlich benahm, zu erforschen, geschweige denn zu besiedeln. Auch Orla von Orbit, die Leiterin der Behörde, begann die Lust am Vorhaben zu verlieren. Sie war schließlich direkt betroffen, war sie doch diejenige, die die vom Kommandanten in Flüsterstimme abgegebenen Berichte aufschreiben und schönen mußte, die an die Elektrolesewände in den Wohnziummern weitergegeben wurden. Weiter hatten mehrere ranghohe Mitglieder der ODB in der ODB-Kantine die Vermutung geäußert, daß irgendwo in den Berechnungen ein Fehler stecken mochte und daß es hier um die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Größenverhältnissen ging, aber bewiesen war das natürlich keineswegs und so wurde missmutig ein drittes Mal Hero von Leander ausgeschickt, um mit seinen Jungs weitere Erfahrungen auf dem schon zweimal anvisierten Planeten zu sammeln.
- Wo werden wir diesmal landen? grummelte Hero in seinen frischgewaschenen Bart. In einer Kaffeetasse? Auf der Zunge einer Kuh?
- Also ich gehe auf keinen Fall wieder als erster raus, ließ sich Jörg der Stahlharte vernehmen, das letzte Mal habe ich einen Socken von meinem Lieblingspaar eingebüßt, das mir meine Mami gestrickt hatte zum Schutz gegen den grauen Monat November…
Die anderen Mitglieder der Crew nickten beifällig – auch sie mochten den November nicht und konnten den Seelenschmerz von Jörg gut verstehen.
Dem Navigator, der inzwischen in das Navi "Zunge einer Kuh" eingegeben hatte, wurde noch soeben das Gerät entwunden und die Eingabe wurde für ungültig erklärt. Hero seufzte bekümmert. Wenn sie doch mal endlich wo landen könnten, wo es ein bisken nett wäre – er dachte da an ein paar Extraurlaubstage nach den beiden Misserfolgen, irgendwo, wo man sich in Flip Flops von den bisherigen Flops erholen könnte, wäre das nicht was?
Spielerisch formten seine strammen Fingerkuppen auf den Tasten des Navi das Wort "Paradies".
Und ab ging die Post, sozusagen.
Hero von Leander lag mit verschrumpelten Fingerkuppen in einer Riesenbadewanne, die von mohnduftendem Badeschaum überquoll. Er hörte eine CD von Udo Jürgens auf seinem iPod, während leichtgeschürzte Jünglinge ihm den Bart kämmten und lila Lilien hineinflochten.
Nicht weit davon genoß Jörg der Stahlharte eine verweichlichende AloeVera-Fußmassage, ausgeführt von einer blondgelockten zartgliedrigen Staatsanwältin, während neben ihm ein Heidi-Klum-Klon neue Socken in seinen Lieblingsfarben für ihn strickte.
Let-me Hang der Pirat aber hing kopfüber an einer Schaukel und sog durch einen Riesenstrohhalm aus einem Zehnliterbottich, der auf dem Boden stand, ein Gemisch aus Rum und Vanilleeiskrem in sich hinein, während seine Äuglein vor Vergnügen schweinisch glänzten.
Marius genannt das Seemonster schließlich wurden gerade die Schwimmhäute lindgrün lackiert – auch eine Veilchengesichtspeelingmaske für seine Gurkennoppenfresse blubberte bereits in einem gußeisernen Riesentiegel vor sich hin.
Der Rest der Mannschaft, weit weniger phantasiebegabt als diese vier, lag eher traumlos im bleiernen Kälteschlaf, während die Zeit auf der Zeituhr lief und lief und lief, denn das Paradies war ein sehr weitgestecktes Ziel und nur in Jahrhunderten zu erreichen.
Kurz bevor er wegnickte, hatte sich Hero von Leander noch freudig gedacht, daß angesichts des langen Weges hin und zurück immerhin ganz andere Mitglieder der ODB ein Empfangskomitee bilden würden, und so brauchte er wenigstens nicht mehr dieser nervigen Orla von Orbit seinen wie auch immer gearteten Bericht zu erstatten.
Es hatte alles auch sein Gutes. So dachte er.
Fünf Jahrhunderte waren vergangen, und der Flieger HX2o0 näherte sich dem Zielort.
Wären die Mannschaftsmitglieder nebst Chef nicht so feste am Pennen gewesen, hätten sie ein erstes Hinweisschild erblicken können, auf dem in goldenen Buchstaben der Satz "This is the way to paradise - I think" eingraviert war. Der leichte Vorbehalt, der in dem Satz anklang, hatte nach fünf Jahrhunderten jegliche Bedeutung verloren, die Sensoren des Fliegers nahmen nur das Wort "paradise" wahr und begannen den Auftauprozeß. Nachdem alle vollständig erwacht, abgetrocknet, gekämmt, rasiert (außer Hero) und bekleidet (außer Marius) waren, drängten sie sich auf der Brücke, begierig zu sehen, was die Aussicht bot.
Das war es nun, das Paradies? Und gleich würden sie landen.
Orla von Orbit legte den Organiscriptor aus der Hand. Ihr sechshundert Jahre alter runzliger Hals ruckte vor und zurück, bevor sie ihr Glas mit dem vor fünfhundert Jahren erfundenen Ewigkeitssaft bis zur Neige trank.
So weit waren sie mit ihrer Hilfe nun gekommen, die Mitglieder der Mannschaft der EUZE – der Ersten Und Zweiten Expedition – und weit genug weg waren sie jetzt tatsächlich auch für ihren Geschmack, hatte sie doch nach der letzten Berichtssitzung mit Hero von Leander, als sie versucht hatte, diesem an die Wäsche zu gehen, den ununterdrückbaren Drang verspürt, ihn Jahrhunderte weit weg zu wünschen, so peinlich war ihr seine Ablehnung gewesen. Aber nun hieß es den Leuten klarzumachen, daß irgendein Paradies irgendwo existent war oder nicht, und wenn einer zu Hause jetzt vor seiner Elektrolesewand hockte, wollte er kein Rumgedruxe und nun endlich wissen, wo die berühmte Mannschaft abgeblieben war.
Orla griff wieder zum Organiscriptor und fuhr fort zu schreiben:
- Wie mir Hero von Leander in einem sehr privaten, sehr leisen Bericht mitteilte, war das vorgefundene Paradies von grüner Farbe und durchsichtiger Konsistenz. Als der Flieger HX2o0 aufsetzte, wwackelte es wie ein WWackelpudding nur wwackeln kann, später entsprangen dem Berg sahnige Vanillebächlein, und Riesenamarenakirschen kullerten aus unterirdischen Verliesen. Im Austausch dazu kullerten die Männer dort hinein und trafen auf reifliche Kullerpfirsiche und Essigpflaumen, und da es in allen Eingeweiden nach mehrhundertjährigem Schlaf immens kullerte, unterzogen sie sich einer paradiesisch purgierenden Obstkur, um leichtbeschwingt in etwa zwölfeinhalb Minuten wieder zu unserem geliebten Heimatplaneten zurückzukehren. Vorgeschlagen wird hiermit die
Aufnahme der Mannschaft in den multigalaktischen Zirkel als EUZUDE.
Und so kam es, daß die Mannschaft und ihr heldenhafter Kommandant, der edle Hero von Leander, mit der Ehrenbezeichnung EUZUDEMDR - Erste Und Zweite Und Dritte Expedition Mit Dem Rauschebärtigen - benannt wurden, während die Elektrolesewände auf dem gesamten Heimatplaneten die NDG – die Neuen Drei Grundsätze - verkündeten:
Erstens: Der vormals mehrmals anvisierte Planet ist Kacke-Eisbahn-Glibberpudding und damit besiedlungsresistent.
Zweitens: Das Paradies an sich gibt es nicht - I think.
Drittens: Strengt euch an und kommt gefälligst mit dem klar, was vor eurer Nase liegt.
Wunderschön bist du…
Helga Rougui
Es war einmal … eine sehr sehr alte graue dicke Landschildkröte, die lebte in den heißen, staubigen Hügeln des Taygetos. Sie war die letzte ihrer Familie, und sie lebte allein.
Des Morgens erwachte sie zeitig, wedelte sich den Morgentau vom Stummelschwanz, frühstückte das eine oder andere Kräutlein und machte sich dann zu ihrem Morgenspaziergang auf, der sie an eine frische Quelle führte, an der sie ihren Durst stillte. Dann kroch sie langsam zurück zu ihrer Höhle und widmete sich ihrer Lieblingstätigkeit: sie dachte nach.
Sie dachte nach über die Sonne, den Regen, die Steine, den Staub, die Gräser und die Kräuter, sie dachte nach über das Woher und Wohin und über das Leben und die Liebe. Auch sie hatte einst die Liebe gekannt, aber nun hatte sie sich an das Alleinsein gewöhnt und war ihres Alltags zufrieden.
Eines Tages gegen Mittag, als die Sonne am höchsten stand und die sehr sehr alte Schildkröte nach dem Mittagsgras in der Hitze döste, sah sie etwas Goldenes vor ihren Augen vorbeiflirren. Sie blinzelte und erblickte einen goldenen Pirol, der sich vor ihr aufgeplustert hatte und sie, das Köpfchen geneigt, mit trillernden Tonkaskaden begrüßte:
- Wunderschön bist du, o mächtige Kröte, ich liebe deine imposante Gestalt und deinen feingezeichneten Panzer.
Da wurde es der Kröte warm ums Herz, und sie verliebte sich in das goldene Gefieder des Pirols und in seine eisblauen Augen.
Nun begann eine schöne Zeit. Die beiden trennten sich nie. Sie frühstückten miteinander, gingen und flogen zusammen zur Quelle, und dann tirilierte der Pirol, und die sehr sehr alte Schildkröte dachte über den schönen Gesang ihres Freundes nach, und manchesmal versuchte auch sie zu singen, und der Pirol dachte darüber nach, was für eigenartige Töne eine singende Schildkröte zustandebringen konnte. Und dann kam die Nacht, und der Pirol kuschelte sich in die Halsbeuge der Kröte, und sie schliefen zufrieden ein, um einen gemeinsamen neuen Tag zu erleben.
Mit der Zeit allerdings mußte sich die sehr sehr alte Landschildkröte eingestehen, daß der Pirol immer unruhiger wurde. Sein Gefieder wurde stumpf und seine Lieder einfallslos. Er flog auch öfter weg, und wenn er wiederkam, war er meist etwas zerstreut und nicht so ganz bei der Sache, wenn es ums Tirilieren oder Nachdenken ging.
So konnte es nicht weitergehen. Eines Abends faßte sich die sehr sehr alte Landschildkröte ein Herz – das einzige, das sie hatte und von dem sie ahnte, daß es gleich gebrochen würde – und fragte den Pirol, warum sich alles unmerklich verändert habe. Der Pirol zögerte zuerst, denn er wollte seiner Freundin nicht wehtun, aber dann gestand er, er habe im nächsten Tal eine sehr alte Schildkröte getroffen, für die er von nun an gerne singen wolle. Auch sie war nicht jung, aber eben nicht sehr sehr alt, sondern nur sehr alt, und mit ihr wolle er ein gemeinsames Leben versuchen.
Da weinte die sehr sehr alte Landschildkröte ein bißchen, aber sie wußte auch, daß man den Lauf des Lebens nicht aufhalten kann, und sie bewahrte ihre Würde und wünschte dem Pirol alles Gute und ließ ihn ziehen.
Als er fort war, weinte sie noch einmal ein bißchen, und dann öffnete sie der Einsamkeit erneut die Tür zu ihrem Leben und bat sie herein.
Die Tage zogen vorbei, Sonne wechselte mit spärlichem Regen, die Kräuter wuchsen und wurden gefressen, der Winterschlaf kam und der neue Frühling zog herauf.
Eines Morgens im Mai machte sich die sehr sehr alte Landschildkröte wieder einmal auf den Weg zur Quelle, um ihren Morgentrunk zu nehmen. Dort angekommen, sah sie am Rand des Wassers eine schlanke grünglänzende Smaragdeidechse sitzen, die sie mit ihren nachtschwarzen Augen heiß ansah und zu ihr sprach:
- Guten Morgen, wunderschöne Kröte! Ich liebe deine erlesene Gestalt….