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Frieda brütet

Helga Rougui

An diesen Tagen, in diesen Nächten machten alle, ausnahmslos alle einen großen Bogen um sie.

Siegfried, an sich Herrscher aller Hühner, war nach vollzogener Pflicht bis zum nächsten Einsatz Zeugungstäter im Wartemodus und ab nun nur noch potentieller Störenfried des Nachwuchsausformungsvorgangs. Er verbrachte die meiste Zeit hinten im Garten, um zu tun, was ein Mann in seiner Situation zu tun hatte. Kratzen, Krähen, König sein.

Und ihr aus den Augen zu gehen, möglichst umfassend.

Anais, Berta, Chloe, Doris, Edwinna und Gundi, ihre allerbesten Freundinnen im Harem, hyperventilierten nervös ohne Unterlaß und bewegten sich nur in Zeitlupe unter extrem leisem Gackern um die Stelle, die sich Frieda jeweils für ihr Nest erwählt hatte.

Dort saß sie breitfedrig und aufgeplustert, um nahezu bewegungslos zu verharren und aus runden, kleinen, stets erstaunt blickenden Augen Gedankenlöcher in die Luft zu starren. Ab und an ging ein Ruck durch ihren Kopf, ihren Oberkörper, sie drehte den Hals nach rechts, nach links, sich der Ruhe und des Friedens um sich herum versichernd. Die anderen bildeten einen unsichtbaren Kreis um sie, den sie beherrschte und der sie schützte. Nur wenige Lebewesen gab es, die die Bannmeile durchbrechen mochten, ohne Schaden zu nehmen.

Friedas Blick fiel angelegentlich auf zwei Regenwürmer, die sich angeregt durch den seit Tagen anhaltenden Nieselregen aus der feuchten, weichen Erde gequält hatten und nun einen Wettlauf gegeneinander hinlegten, daß die Matschpartikel nur so spritzten. Das Ziel dieses Wettlaufs blieb ein Geheimnis, tief versteckt in ihren winzigen Regenwürmergehirnen, in die außer diesem einen Gedanken, nämlich dem, ebendort anzukommen, nicht mehr viel anderes hineinpaßte.

Frieda fühlte sich den Würmern seelenverwandt, jedoch nur in diesen seltsam entrückten, gleichsam schwerelosen Momenten ihrer selbst bestimmten Brutzeit, in der sie körperlich wie gelähmt ihre Gedanken paradoxerweise auf ihren persönlichen Wettlauf richtete, den Wettlauf gegen die Zeit, der für sie in einem reinen Aussitzen der Lage bestand, und ihr Ziel füllte ihren Kopf, nämlich lange genug Geduld und Sitzfleisch aufzubringen, bis ihr Werk vollendet war.

Ihre Freundinnen riskierten einen Blick in ihre Richtung, sahen, wie die Regenwürmer an ihr vorbeieilten, und dachten dies und das. Bewunderung und Unverständnis hielten sich die Waage. Man traute sich aber auch nicht, sich der saftigen, doch momentan sakrosankt scheinenden Exemplare zu bemächtigen, da Frieda überaus zickig werden konnte, wenn man, sei es auch nur per Zufall, in ihren Dunstkreis hineingeriet. Das letzte dumme Huhn, das sich ihr nicht einmal aus bösem Willen, sondern aus purer gefräßiger Unachtsamkeit genähert hatte, um sich in einer ähnlichen Situation schadlos zu halten, lief noch heute mit beträchtlichen Kahlschlägen im Gefieder herum und war der höfischen Umwelt eine Lehre.

Fakt war, daß Frieda eine eigenartige Faszination auf sämtliches wimmelnde, sich windende Getier ausübte, wenn sie in diesen komatösen Zustand geriet. Dann und nur dann waren diese bodennahen Wesen in absoluter Sicherheit, vor Frieda sowieso, die über ihnen thronte wie eine wenn auch unfreiwillige Schutzgöttin und das, was sonst ihre Leibspeise darstellte, lediglich auf einer appetitfreien Metaebene wahrnahm, sowie eben auch vor all den anderen, die sich nicht in Friedas Nähe trauten, all ihrer Gier zum Trotz.

Und so herrschte um die gemächliche Brüterin herum ein reges Kriechen und Krauchen, während sie wie abwesend und ohne sich zu rühren alle Wärme, die sie in sich versammeln konnte, ihrem Unterboden entgegenleitete, auf daß diese Wärme Gutes bewirke und Leben erschaffe und entwickele und vollende.

Aus diesem Zustand konnten Frieda eigentlich nur zwei Dinge teils kurz-, teils längerfristig erlösen.

Einmal war das der imperiale Ruf zur Nahrungsaufnahme morgens und abends; für wenige Minuten verließ sie ihre oberflächlich mit einigem leicht darübergeschobenem Stroh bedeckte Wirkungsstätte, aß und trank hastig, ohne etwas zu schmecken, um sich unverzüglich wieder an die ihr vom Schicksal und sich selbst zugewiesene Stelle zu verfügen.

Zum anderen war das natürlich der Endpunkt des Vorganges selbst, der sich nach etwa drei Wochen immer gleich, nämlich durch ein dumpfes Rumoren und spitze, abgehackte Geräusche unter ihr ankündigte.

Dann erhob sich Frieda etwas steifbeinig, jedoch durch und durch majestätisch, trat beiseite und gab den Blick auf ihr Gelege endgültig frei, zahlreiche unter den mistverklebten Stellen strahlendweiße Eier kamen zum Vorschein, in deren Außenhüllen sich bereits die ersten erfolgreich gepickten Dellen und Bruchlinien abzeichneten.

Und nun zum Abschluß der Aktion begann der Wettlauf des Friedaschen Nachwuchses untereinander, die Küken rangen verbissen mit den Schalen, jedes wollte das erste sein, sie abzustreifen, bedeutete das doch den Platz genau hinter der Glucke plus die wärmste Zuwendung plus die fettesten Regenwürmer plus die größte Sicherheit.

In dem Maße, wie die Küken sich freikämpften, zogen sich die Würmer eilig zurück, wobei, wer zu spät ging, den bestrafte das Leben derart, daß er dem Siegerküken als allererster Frühstückswurm zu dienen hatte, eine zweifelhafte Ehre, auf die keiner der nun wieder vom Studienobjekt zum Nahrungskettenglied Degradierten so recht Wert legte.

Nach einer Weile war es dann soweit, Frieda stolzierte an der Spitze ihrer frischgeschlüpften, fast getrockneten Nachkommen quer über den Hühnerhof, eingebildet wie der Obergockel persönlich, der sich inzwischen aus den Untiefen der hinteren Gärten in den vorderen Bereich zurückgemeldet hatte, auch die Freundinnen umringten sie jetzt, ihrer durch allgemeine Erleichterung gestützten Bewunderung durch lautes Gackern Ausdruck verleihend.

Frieda war hochzufrieden, hatte ihre Bestimmung erfüllt und konnte sich der Position der Lieblingsfrau im Harem ihres Gockels sicher sein.

Und wodurch?

Durch die Erzeugung einiger quietschegelber kleiner Federbällchen.

Aus denen Hähne werden, oder Hühner.

Oder Brathähnchen beziehungsweise Suppenhühner.

Kinder sind unsere Zukunft, auch wenn sie irgendwann aufgefressen werden.

Was sie mit den Eltern gemeinsam haben.

Denn wer macht am Ende das Rennen?

Die Würmer.

 

Der Sex des Alters

Helga Rougui

Ich bin alt.

Ich habe einen Filofax mit Kalendereinlagen, die ich jährlich neu kaufen und austauschen muss. Ich führe mein Tagebuch mit der Hand, und meine Einkaufszettel schreibe ich auf ein kleines Blatt Papier, das ich aus einem Notizblock reiße. Man weist mich darauf hin, dass die benötigten Dinge im Handy zu notieren viel praktischer sei. Das mag sein, aber in meinem Falle nicht. Ich habe weder Handy noch Smartphone. Auch keinen Laptop, kein Tablet, keinen PC.

Ich schreibe mit Bleistift auf Papier.

Immerhin nicht mehr mit Gänsekiel auf Pergament.

Nun lief ich letztens durch den Supermarkt, bzw. ich schob mich an meinen Rollator geklammert an den Regalen entlang, als ich ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier vor der Auslage mit den exotischen Früchten bemerkte.

Sieh da, dachte ich, hob das Papier auf und entfaltete es. Es gibt noch andere Leute, die ihre Einkäufe altmodisch notieren. Seltsam - nach einem Einkaufszettel sah das eigentlich nicht aus, wenn man die einzelnen Posten durchging. Ein "Fön" unter all den Lebensmitteln? Wobei es sich bei denen auch nicht gerade um die Abdeckung rudimentärer Basisbedürfnisse handelte. Und zum "Haarwachs" passte der Fön auch nicht so richtig.

Das sah eher aus wie - wie - .Wo hatte ich so was schon mal gesehen?

Vor langer Zeit, am Anfang meiner Schreibkarriere, hatte ich einmal einen Kurs über "Kreatives Schreiben" besucht, und da gab es Aufgaben, die mit willkürlich gewählten Begriffen spielten, mit denen man unter Einhaltung bestimmter Vorgaben Texte erstellen sollte. Ich drehte den Zettel um und sah meinen Verdacht bestätigt. Auf der Rückseite stand eine "5". Was bedeutete, dass es noch mindestens vier weitere Zettel mit ähnlichen Begriffen geben musste. Ich überlegte, wie wohl die Aufgabe lauten könnte. Etwa: Schreibe einen möglichst kurzen Text, in dem die von dir gezogenen sechs Wörter in der hier gegebenen Reihenfolge vorkommen. Sie dürfen dekliniert werden, aber nicht doppelt oder mehrfach auftauchen.

Ich steckte den  Zettel ein und sah auf meinen eigenen. Tomaten, Entrecôte, Baguette, Camembert, Rotwein, Haftcreme. Was für eine Geschichte ließ sich daraus basteln? Da war kein langes Nachdenken nötig. Eindeutig ging es hier um das Abendessen einer alten Frau, die dank eines gut fixierten Gebisses ein französisches Diner zu schätzen wußte und einem kräftigen Schluck durchaus nicht abgeneigt war.

Was die andere Liste betraf, so zeichnete sich vor meinem inneren Auge schon eine hübsch lüsterne Geschichte ab, beginnend mit der vorbereitenden Körperpflege, unter anderem Haare waschen, trocknen, stylen. Dann eine leichte Mahlzeit, einen Salat von Avocado und Gambas, begleitet von Sekt, dem klassischen Getränk der Verführungskunst. Letztere in erotischen Liebesspielen mündend, beispielsweise Verteilung von Sprühsahne auf diversen Körperteilen und deren Beseitigung mittels Zunge.

Der Aufbau der Geschichte stand in meinem Kopf wie eine Eins.

Blieb zu hoffen, dass den weiblichen Part der Szenerie eine ähnliche Standfestigkeit von männlicher Seite erwartete.

 

Einen Fuß vor den anderen. Vorsichtig. Ungelenk. Ungewohnt.

Helga Rougui

Was fällt Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin, zu "Lucy in the Sky with Diamonds" ein?

Natürlich - die Beatles und ihr Song aus den Sechzigern, FlowerPower, Farbenrausch.

!974 wurde der Song in einem archäologischen Ausgrabungslager in Äthiopien gespielt - und diente als Namensgeber für ein sehr besonderes Wesen, das registriert wurde unter der Nummer:

AL 288-1

Einen Fuß vor den anderen. Vorsichtig. Ungelenk. Ungewohnt.

Sie hatte keine Wahl gehabt. Der Weg, den sie hatte einschlagen müssen, bot keinen Baum, keinerlei Geäst, an dem entlang ihre kräftigen Arme sie hätten entlangtragen können.

Es war der einzige Weg, der zum See führte, in dem vielleicht noch etwas Nässe war. Zwar würde es bald Wasserwetter von oben aus den entfernt aufziehenden Wolken geben, das fühlte sie in jedem ihrer 207 Knochen. Aber es ließ sich Zeit, und sie konnte nicht warten.

Sie hatte Durst. Jetzt.

Sie spürte die Dürre, die flirrende Hitze, die Trockenheit auf ihrer Haut. Dunkel und schweißfeucht spannte sie sich über ihrem Bauch. Das dichte Fell auf ihren Schultern schützte sie vor der sengenden Sonne, es war schwer von Schweiß.

Weiter. Fuß vor Fuß. Schritt für Schritt. Jetzt, nach der Hälfte des Weges, ging es sich besser. Ihre Knie zitterten nur noch leicht.

In der Nacht zuvor war die Horde eng zusammengerückt, trockene Kehllaute standen für Durst, ein Fauchen stand für Angst. Der Weg zum See war weit, es gab Tiere. Die Sterne funkelten am Himmel wie Diamanten, hart und fern, mitleidlos. Gegen Morgen sah sie ihr Junges, so groß wie ein kleines Schimpansenbaby, wie es nach Luft schnappte und dann damit aufhörte, dies zu tun. Sie zog sich hoch, stellte sich auf ihre Beine, das Fauchen um sie herum nahm zu, es kümmerte sie nicht..

Weiter. Fuß vor Fuß. Schritt für Schritt. Sie konnte das Wasser schon riechen. Die Hoffnung, dass keine gefährlichen Tiere Durst verspürten zur gleichen Zeit wie sie.

Plötzlich mehr dunkle Wolken am Himmel, feuchte Gebirge, drohend.

Sie stand am Ufer des Sees, als die Schleusen des Himmels sich öffneten und in kürzester Zeit den Fluss, der den See speiste, zu einem reißenden Strom anschwellen sieß.

Plötzlich war das Wasser überall, überall Schlamm und Matsch, es half nicht, dass sie sich auf alle vier Gliedmaßen stützte, sie verlor den Halt und prallte auf die Felsen am Ende der steilen Böschung. Der See empfing sie mit offenen Armen und füllte ihre Lungen mit Wasser.

Ihr letzter Blick ging zum Himmel. Keine Sterne, Dunkelheit.

Vor 3,2 Millionen Jahren ertrank in Hadar, Äthiopien, eine junge Frau von 25 Jahren in einem See. Der Schlamm bedeckte ihre Leiche, und so wurde sie von dem kurz danach vorbeiziehenden Rudel Löwen nicht gefunden.

Wo sind denn alle?

Helga Rougui

Sie schläft. Die Nase im Kopfkissen hört sie den Wecker klingeln. Sie steht auf. Während sie ins Bad geht, zieht sie sich das Nachthemd über den Kopf. Sie setzt sich aufs Klo, sie nimmt eine Dusche, sie sucht sich ihre Unterwäsche, ihre Socken, ihre Kleidung zusammen. Sie zieht sich an, sie bürstet ihre Haare und schminkt sich Augen und Lippen.

Die Kaffeemaschine brodelt, sie trinkt die erste Tasse Kaffee. Sie ißt eine Scheibe Brot mit Butter und Erdbeermarmelade und eine zweite mit Salami und schneidet eine Tomate dazu. Sie checkt ihre Mails, Werbung, Annika ist schwanger, Udo geht nach Amerika, Werbung. Der Kater streicht schon eine Weile um sie herum. Sie öffnet eine Dose Katzenfutter, rümpft die Nase und füllt den Freßnapf.

Sie verläßt die Wohnung. Am Auto angekommen kramt sie in ihrem Rucksack nach dem Autoschlüssel, schließt die Fahrertür auf, steigt ein und biegt nach rechts in die Hauptstraße ab. Eine Ampel springt auf Rot. Sie gähnt. Es ist noch früh. Die Ampel springt auf Grün. An der Tiefgarage des Bürogebäudes angekommen steckt sie ihre Chipkarte. Die Einlaßschranke hebt sich. Sie findet direkt im vorderen Bereich einen für Frauen reservierten Parkplatz.

Sie begibt sich an ihren Arbeitsplatz. Der Aufzug bringt sie in die sechste Etage. Dort hat die Firma ihren Sitz. Sie öffnet die Tür zu ihrem Büro, legt ihre Sachen ab und setzt die Kaffeemaschine in Gang. Sie schaltet ihren Rechner ein. Ordner, Dateien, Dossiers, Formulare. Um halb zehn Uhr ißt sie ein Knoppers das Frühstückchen. Genehmigungen, Verpflichtungserklärungen, Unterlagen zur Weiterleitung.

Mittags in der Kantine nimmt sie ein Tablett und geht zur Essensausgabe. Sie wählt einen Teller mit paniertem Schnitzel und Pommes, keinen Salat. Sie setzt sich in eine Ecke an einen freien Tisch und ißt.

Nach einer halben Stunde geht sie wieder in ihr Büro. Sie schaut auf den Bildschirm. Kostenaufstellungen, Erstattungsanträge, Statistiken, Tabellen. Papiere, Papiere, Papiere. Sie sieht auf die Uhr. Sie macht Feierabend.

Sie geht zum Arzt. Sie betritt die Praxis. Sie kann sich direkt ins Wartezimmer setzen. Sie betrachtet abwechselnd den Gummibaum und ein überdimensionales abstraktes Gemälde. In der Kinderspielecke stehen zwei kleine Holzstühle und ein Tischchen. Darauf liegen Bauklötze und Bilderbücher mit Abbildungen von Zootieren und Planeten. Sie geht in den Untersuchungsraum, macht den Oberkörper frei, legt sich auf die Liege. Sie schließt die Augen. Sie fühlt die Saugnäpfe des Meßgeräts und hört, wie der Ausdruck mit der Herzkurve aus dem Ausgabeschlitz des Apparats rattert. Sie zieht sich wieder an und verläßt die Praxis.

Sie geht einkaufen. Mit einem Einkaufswagen betritt sie den Supermarkt. Ihr Blick streift über die Waren in den Regalen. Zuerst steuert sie die SB-Fleischtheke an. Blut, Fasern, Knochen, Fett. Sie legt ein in Zellophan verpacktes Steak und ein Päckchen Lungenhachee für den Kater in ihren Wagen.Sie geht an der Brottheke vorbei. In der Obst- und Gemüseabteilung sieht sie Rot, Grün, Blau, Gelb. Äpfel, Zucchini, Weintrauben, Bananen. Sie geht zur Kasse, legt die Waren auf das Band, das Band ruckt an und läuft. Der Scanner piept piept piept piept piept piept. Sie holt ihr Portemonnaie heraus und öffnet es. Sie schiebt ihre Amexkarte in den Schlitz des Lesegeräts und tippt ihre Geheimzahl in die Tastatur. Sie packt das Fleisch, das Obst und das Gemüse in eine Plastiktüte und trägt die Tüte zum Auto. Sie öffnet den Kofferraum und stellt die Tüte hinein.

Sie geht schwimmen. Sie betritt das Schwimmbad und entwertet ein Feld ihrer Zehnerkarte am automatischen Einlaß. In der Umkleide zieht sie ihren Badeanzug an, geht dann in den Duschraum und sucht sich eine Einzelkabine. Sie geht in die Schwimmhalle und steigt die Treppe zum Becken hinunter. Sie verzieht das Gesicht, es ist Warmbadetag. Sie schwimmt. Wasser Beckenrand Wasser Beckenrand Wasser Beckenrand. Sie schwimmt zwanzig Bahnen. Dann verläßt sie das Becken und geht wieder in die Umkleide. Der Föhn funktioniert. Es gibt keinen Spiegel. Sie geht zum Ausgang und verläßt das Schwimmbad.

Sie fährt nach Hause, räumt die Lebensmittel in den Kühlschrank und sieht nach dem Kater.

Sie geht ins Kino. Sie betritt den Vorraum, geht zur Kasse. Sie legt einen 50 Euro-Schein auf die Theke, zählt das Wechselgeld und nimmt ihr Ticket. Sie will sich eine XXL Tüte Popcorn und einen Maxibecher Cola holen, aber das Erfrischungsbuffet ist geschlossen. Ein vergilbtes Plakat wirbt für "Die Wüste lebt". Der Film läuft schon lange nicht mehr.

Sie sieht den Eingang zum Kinosaal. Dann sieht sie nichts in der Dunkelheit der Eingangsschleuse. Die Reihe mit ihrem Platz ist unbesetzt. Sie nimmt ihren Platz ein. Die Werbung ist vorbei. Es wird dunkel. Die Leinwand wird hell. Sie sieht die Leinwand. Sie sieht auf die Leinwand.

Mike Leigh, Another Year. Vorspann. Der Film beginnt.

da sind sie ja

und ich dachte schon alle wären unsichtbar

Sie sieht den Film. Sie sieht den Abspann. Es wird hell. Sie sieht leere Becher, leere Tüten von der Nachmittagsvorstellung unter den Sitzen. Sie verläßt das Kino.

Draußen. Frische, feuchte Luft.

Ein Regenguß kündigt sich an.

Sie schöpft Hoffnung.

Es ist höchste Zeit.

 

 

Whisky oder Fencheltee?

Helga Rougui

Wissen Sie, ob Sie nach Ihrem hoffentlich noch in ferner Zukunft liegenden Ableben in den Himmel oder in die Hölle kommen? Oft ist der Fall nicht klar, Engel und Dämon streiten um Ihre Seele, und manchmal muss dann doch jemand ex machina die Entscheidung fällen ...

Und so sieht das dann aus:

 

Es ist die Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen. Das Café am Rathausplatz in D. hat sich geleert, ein Kellner lehnt an der Theke, falls einer der übriggebliebenen Frühstücker herüberwinkt für ein letztes Gläschen Sekt. Aus der Küche dringen Geräusche, Töpfeklappern, leise Anweisungen, das Mittagessen ist in Vorbereitung.

Zwei Frauen - oder sind es Damen? - betreten das Café. Unterschiedlicher könnten sie nicht sein. Die eine rothaarig, grünes Kleid, rote High Heels, ein überstark geschminkter Mund. Schwarz ist der Lippenstift wie die Nacht, die grünen Augen leuchten wie die grüne Hölle von Bollendorf. Der Kellner strafft sich unwillkürlich - um beim Anblick der zweiten Erscheinung entspannt zusammenzufallen. Blond ist sie, natürlich, rosig, ungeschminkt, weißes schmales Kleid und flache Schuhe, saphirblaue Rehaugen, Audrey Hepburn in "Roman Holiday".

Gebieterisch winkt die Rothaarige die andere zu einem Tisch in einer Ecke, die sich zustimmend lächelnd ebenfalls dort niederläßt.

- Hier können wir in Ruhe reden. aber erst mal Frühstück.

Der Kellner steht bereit, nimmt die Bestellung auf, schlägt vor:

- Das Luxusfrühstück für zwei Personen, meine Damen?

- Ach was, für mich einen doppelten Scotch auf Eis und sechs frische Austern.

Und du, Uriel, das Gleiche?

Die Frage kommt leicht spöttisch, während sich der Kellner gleichzeitig über den Namen für die blonde Lichtgestalt wundert.

Uriel antwortet geduldig:

- Danke, Baobhan-Sith, aber du weißt doch, ich vertrage keinen Alkohol. Ich nehme einen Fencheltee und eine Schale Manna mit Frohlocken.

Der Kellner guckt, während Baobhan-Sith dazwischenfährt:

- Sie meint Mandarinen mit Haferflocken. Ohne Chili, stimmts, Uriel? Nun aber flott, flott, der Herr.

Der Kellner entfernt sich, die beiden Damen rücken zusammen.

Baobhan-Sith beginnt. Sie zischt:

- Also wenn du glaubst, ich lasse mir meine Beute so leicht entwinden -

- Das ist keine Beute, Bao, sondern ein sehr junger, sehr verletzlicher Jüngling, der gerade erst - unter meiner Leitung - zu seiner Bestimmung gefunden hat.

- Du mit deiner Bestimmung. Deine Aufgabe, Autoren mit kreativen Ideen zu versehen, ist doch lächerlich. Außerdem habe ich ihn die ganze Zeit mit herrlich giftigen Einfällen vollgeblasen, die ihn überhaupt erst zum Bestsellerautor gemacht haben. Was glaubst du, worauf die Leute abfahren? Auf dein liebliches Zuckerzeuggeschreibsel oder auf Sex-Horror-Crime-Thriller?

- Das ist ja nun auch egal, meint Uriel leicht betreten. Auch sie hat feststellen müssen, daß die Verkaufszahlen von "Koks im Arsch des Drachen", dem letzten Roman ihres Schützlings, enorm angezogen haben. Sie wischt eine Träne weg.

- Egal, nimmt sie den Faden wieder auf. Er hat nun mal diesen Tumor und nicht mehr lange zu leben, und ich bin bereit, ihn ins Licht zu führen.

- Das wird dir nichts nützen, meine liebe Uri, auf ihn wartet das Feuer der Hölle. Ich habe schließlich bewirkt, dass er sich mit bösen Gedanken geradezu vollgesogen hat. Er gehört mir.

- Ja, aber er hat durch sein neuestes Werk jede Menge Arbeitsplätze gesichert und Buchhandlungen vor dem Ruin gerettet. Das Mittel mag nicht gerade himmelsadäquat gewesen sein, aber das Resultat war göttlich. Gut und selbstlos.

- Ach, und die Millionen, die er verdient hat? Die Ferraris, die Weiber, das Lotterleben? Der Alkohol? Die Drogen?

- Er hat immerhin gespendet. Für die verschiedensten krebsbekämpfenden Organisationen.

- Aber erst nachdem er krank geworden ist. Sieht nicht nach Selbstlosigkeit aus.

Der Kellner kommt mit dem Frühstück. Fencheltee und Mandarinenporridge, Austern und Whisky.

Die Damen schweigen, während in unendlicher himmlischer Höhe Gott und Satan die Köpfe zusammenstecken.

- Was meinst du? Wird der Autor demnächst seine Lesungen in deiner Hölle oder in meinem Himmel abhalten?

- Ich weisesnich, ich weisesnich, und wenn ichs wüßt, ich sechtet nich, versucht sich Satan an einem plattdeutschen Spruch, den er irgendwann mal aufgeschnappt hat.

- Also, ich finde, schließt Gott die Überlegungen ab, der Autor ist schon ein rechter Schwerenöter, aber unterm Strich bleibt doch, dass er rasant gut geschrieben hat. Im Zweifel für den Angeklagten.

Während Satan beleidigt schweigt, sendet Gott mit seinem göttlichen Zeigefinger eine Botschaft direkt an den Frühstückstisch.

Und so kommt es, dass vor den Augen des verblüfften Kellners das Whiskyglas und die Schalentiere zu grünem Staub zerfallen - während goldene Blumen aus der Teetasse und der Haferpampe sprießen.

Engel und Dämon schauen nach oben. Dann einander ins Gesicht.

- Die Entscheidung ist gefallen, Man sieht sich, sagt Uriel und erhebt sich.

- So ist es, sagt Baobhan-Sith und strebt ebenfalls dem Ausgang zu.

Aber - es gibt ein nächstes Mal. Und dann - wird man sehen ...

 

Salzkörner

Helga Rougui

Die Suppe im Salz?

Nee nee, der Fisch in der Salzkruste muß das heißen, genauer gesagt, der Loup de Mer in der Meersalzkruste, die wird dann aufgehämmert, und der weiße, zarte Fisch liegt in voller Pracht duftend auf dem Teller. Aber doch, auch die Suppe kann im Salzgefäß zubereitet werden, da heißt es dann etwas schneller essen, sonst hat man sich selber die Suppe versalzen,

Es gibt ein Kochbuch, ein Standardwerk, herausgegeben von Henriette Davidis um die vorige Jahrhundertwende, meine Ausgabe ist von 1905, das war der guten Hausfrau Ratgeber, Brevier und inspirierende Lektüre in einem, und die Hausfrau widmete sich dieser Lektüre nach getanem Hausfrauentagwerk in der Muße der bürgerlichen Abendstunden.

In diesem Buch gibt es ein Kapitel, das sich mit der Kost der Kranken befaßt. Es sind Suppen aufgelistet, deren übereinstimmendes Merkmal es ist, kein Salz und somit keinen Geschmack zu beinhalten, weil Salz schlecht für die Gesundheit sei, wenn nicht sogar per se et eo ipso böse und des Teufels, also ist es von der Liste der rekonvaleszenzunterstützenden Genüsse schon mal grundsätzlich ausgeschlossen, und wenn all diese Suppen auch nach nichts schmecken, so ist das doch egal angesichts des immensen gesundheitlichen Gewinns, den man davonträgt, indem man sich auf diese Rezepte beschränkt.

Was nicht heißt, daß sich in diesem Kochbuch keine salzhaltigen Rezepte finden, man nehme nur das Rezept, Schnecken zuzubereiten.

Schnecken. Sie müssen ausschleimen, die armen Schnecken, damit man sie essen kann, und das tun sie nur, indem man sie überreichich mit Salz bestreut. Ob das den Schnecken gefällt, ist fraglich, aber dem wackeren Esser gefällt es sicherlich.

Was zeigt – Salz ist für die einen gefährlich, für die anderen unverzichtbar.

Wie wichtig Salz ist, habe ich als Kind durchs Lesen erfahren. „Die Höhlenkinder“ hieß der Romanzyklus, und die beiden Protagonisten, Eva und Peter, waren so lange unglücklich, wie ihre Nahrung salzlos war. Eines Tages fand der Junge – oder der junge Mann – eine Salzlecke, die vom Wild benutzt wurde, er brach ein Stück vom Salz ab und brachte es nach Hause zu Eva, die das Jagdfleisch damit einrieb, und sie brieten es über der Glut – eine Art jungsteinzeitliches Slow-Cooking sozusagen, und etwas, von dem sie nicht gewußt hatten, daß es ihnen fehlte, war plötzlich da und rundete das Dasein ab und die Geschmacksnerven auf.

Salz ist wichtig, Überlebenswichtig. Ohne Salz hätten sich die Höhlenkinder gegenseitig totgeschlagen.

Auch in menschlichen Beziehungen darf das Salz nicht fehlen.

Das kann sein das Salz auf der Haut, wenn man mit seinem Geliebten am Atlantik spazierengeht und bein Küssen merkt, daß er das Salz der blauen Meereswolken auf seinen Lippen trägt – das kann sein, daß der Drang übermächtig wird, mit diesem einen Menschen und keinem anderen zusammensein zu wollen - das ist das Salz in der Suppe der menschlichen Beziehungen, das sich gemeinhin Verliebtheit nennt, das kann anhalten und kann auch schnell vorbei sein, aber solange es dauert, ist es gar köstlich und wunderbar.

Salz muß sein. Ohne Salz schmeckt uns die Lebenssuppe nicht.

Begegnungen. Keine Geschichte

Helga Rougui

Begegnungen sind das Salz in der Suppe des Lebens.

Ohne Begegnungen ist keine Bewegung, nur stilles Abwarten – wenn die Begegnungen aufhören, endet das Leben.

Einerseits die regelmäßigen, alltäglichen, banalen Begegnungen, die dich jedes Mal aufs neue merken lassen: du existierst in deiner Realität, indem du dich an anderen Existenzen reibst, ohne sie zu berühren oder gar zu durchdringen, sowie auch die wiederkehrenden tröstenden und freudigen Begegnungen, die - kleine Variante - der Zucker im Kaffee deines Lebens sind.

Das ist die unverzichtbare Basis. Die Alternative ist Einsamkeit.

Andererseits die außergewöhnlichen, faszinierenden, atemberaubenden Begegnungen, an die du dich dein Leben lang erinnerst, die folgenschweren Begegnungen, durch die sich dein Leben verändert sei es im guten oder schlechten Sinne, die wichtigen augenöffnenden Begegnungen, durch die du dich, welche Chance, vielleicht verändern darfst, wenn du sie verstehst.

Das sind die Glücksfälle, die Sahnehäubchen deines Daseins. Die Alternative ist Langeweile.

Es sind zu viele - und in deinem Kopf ballt sich aus mancherlei Gründen diesmal keine Begegnung, erlebt oder erfunden, zu einer Geschichte zusammen.

Dabei mangelt es dir nicht an Begegnungen.

Morgens begegnest du deinem Freund, der sich fluchend in seinen Arbeitstag hineinarbeitet.

Wenn du über die Autobahn zur Arbeit fährst, begegnest du einer Vielzahl von Idioten hinterm Steuer, die alle noch nicht richtig wach sind und dementsprechend fahrkunstmäßig nicht in die Gänge kommen, und du bist natürlich wieder mal die einzige, die zügig und reaktionsschnell zur Arbeit flitzt.

Auf der Arbeit angekommen triffst du wie jeden Morgen deine lieben Kollegen, die dich scheißfreundlich begrüßen, während sie bereits überlegen, an welcher Stelle sie dir den Dolch in den Balg rammen können.

Und das Highlight dieser Art Begegnung ist dann deine Chefin, die freundlich falschlippig Tadel verteilt, die um so schlimmer sind, als sie im Gewand des Liebreizes einherkommen.

In der Mittagspause dann siehst du dich einer grobschlächtigen weißbekittelten Dame mittleren Alters gegenüber, die mit mürrischem Gesicht eine oder zwei Kellen undefinierbares Zeugs auf deinen Teller knallt, und den schlechten Appetit dazu wünschst du dir dann schon mal lieber selbst.

Nach Feierabend, beim Einkaufen, legst du der mißmutigen Kassiererin an der Schnellkasse deine sieben Einkäufe aufs Band. Die dich anranzt, ob und wo du offensichtlich nicht bis fünf zählen gelernt hast.

Und abends begegnest du wieder deinem Freund, der schlagkaputt und reichlich angefressen von seiner Arbeit kommt und dessen Interesse an deinem Tagesablauf darin besteht, sich zu fragen, wieso das Essen noch nicht auf dem Tisch steht.

Dir begegnen offensichtlich deine Begegnungen als Gegner.

Du armer, zutiefst gebeutelter, unglücklicher Mensch.

Aber da ist auch die Begegnung mit deiner langjährigen Freundin, die du einmal in der Woche triffst, die dich voll und ganz versteht und als einzige keine Forderungen an dich stellt.

Oder die Kollegin, die dir von sich aus hilfreich zur Seite steht, wenn du einem unlösbaren Problem gegenüberzustehen meinst.

Und dann an einem ihrer guten Tage findet die Chefin ein ehrliches Wort der Anerkennung für eure ersprießliche Zusammenarbeit und ein echtes freundliches Lächeln.

Mittags schenkt dir die nette Kantinenhilfe, wenn du dich mal wieder nicht für ein Dessert entscheiden kannst, einfach das andere dazu.

Später, im Supermarkt, macht dich die freundliche Kassiererin darauf aufmerksam , daß eine von den Tomaten in deiner Packung faul ist, und die geduldigen Menschen in der Schlange hinter dir warten ohne zu schimpfen, bis du vom anderen Ende des Ladens eine neue Packung geholt hast, die in Ordnung ist.

Und abends nach dem Essen wartet dein Freund nur auf dich, der dich in die Arme nimmt und dir das Gefühl gibt, du seist für ihn der einzige Schatz auf der Welt, und der dich aushält, wenn du unglücklich oder inkonsequent bist.

Wie du in deine Begegnungen hineinrufst, so schallt es heraus.

Wie gut, daß das Leben aus Begegnungen besteht.

Aber eine Geschichte wird das diesmal nicht.

 

 

 

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