Jubiläum
Helga Rougui
Seit heute morgen brummt das Haus. Sicher, es geht zu wie in einem Taubenschlag - aber das meine ich nicht. Das Haus selber, es brummt. Missmutig. Vor sich hin. Ist ihm wohl alles zu hektisch. Es ist sehr alt, sehr groß, und momentan muss es wirklich einiges aushalten.
Trotzdem, man kann sich etwas zusammenreißen. So ein Verhalten ist stillos. Erzeugt nicht gerade die richtige Stimmung für einen 25. Hochzeitstag. Alle freuen sich auf das Fest, haben elegante Kleider angezogen, sogar die beiden silbergrauen Weimaraner tragen mit weißen Rosen besetzte Halsbänder. Zum Gassi gehen ungeeignet, möchte ich meinen.
Mich, die Jubiläumstorte, hat man heute in aller Frühe geliefert.
Seitdem throne ich hier in der Mitte des Buffets. Und wenn ich sage, "throne", dann meine ich das. Ich liege auf einem goldenen Untersatz. Ein Extratisch wurde freigehalten und mit dem feinsten Damast bedeckt, nur für mich.
Das ist das mindeste, denke ich, was man für die Königin der Torten tun kann. Ich bin nämlich eine "von und zu" aus der Konditorei Heinemann aus dem Herzen Düsseldorfs. Mein offizieller Name ist "2-stöckige Deluxe-Marmormuster-Torte". Von außen sehe ich aus, als wäre ich aus kühlem Stein, aber wenn man mich anschneidet, sieht man saftige Schichten von Vanillekuchen, zwischen denen sich eine reichlich aufgetragene Zitronenfüllung befindet.Ausgarniert wurde ich mit Bändern aus rosa und goldenem Marzipan und pinken Krokantblüten, und auf meinem Dach leuchtet weithin die Zahl 25, aus weißem Zuckerzeug gebacken.
Jetzt gerade ist es später Vormittag und still geworden im Kleinen Salon, in dem wir Leckereien uns befinden. Die Familie und die Gäste sind nebenan im Großen Salon und wohnen der Erneuerung des Ehegelübdes bei, das der Hausherr und seine Gattin zu zelebrieren im Begriffe sind. Gedämpft dringen abwechselnd Musik und Stimmen herüber. Hier hört man nur die Canapés, die leise miteinander flüstern, und ab und an zwei Champagnergläser, die vor Aufregung sanft aneinanderklirren.
Ich aber bin ganz ruhig. Ich weiß, dass, wenn alle herüberkommen, ich der Star sein werde. Alle werden Ahhh und Ohhh hauchen, wenn ich angeschnitten werde und man mein Inneres freilegt. Und dann werden sie mich genießen …
Seit ein paar Minuten allerdings sind ein paar neue Geräusche zu den eben beschriebenen hinzugekommen. Nicht weit entfernt von mir. Leise, schlurfende Schritte, begleitet von einem kleinen Klackern, überlagert von Atemzügen, die wie leichtes Hecheln klingeln.
Ich schaue in die Runde, sehe niemanden. Der Salon scheint leer.
Wo sind eigentlich Bella und Lilly?
Der Prinz und die Hexe
Helga Rougui
Prinz Mikail, morgens immer etwas muffel-, weil hungrig, betrat den Frühstücksraum des väterlichen Schlosses und begab sich stracks zur Anrichte, um sich ein nettes reichliches englisches Frühstück auf einen Teller zu häufen. Dann nahm er seinen Platz am Esstisch ein, und während der Lakai ihm den Stuhl zurechtrückte, begrüßte er seine Eltern, die bereits bei ihrer zweiten Tasse Kaffee waren.
- Guten Morgen, Mutter. Guten Morgen, Vater.
Die Eltern, den Mund voller Porridge, quittierten den Gruß mit wohlwollendem Nicken – und während sich Mikail über seine Würstchen mit Speck und geschmorter Tomate hermachte, servierte ihm der Lakai seine Eier. Spiegeleier, wie jeden Morgen. Ohne Eier am Morgen fühlte sich der Prinz nur wie ein halber Mann.
König Manuel ergriff das Wort:
- Wir haben uns hier versammelt, werte Herren …
Seine Frau fuhr dazwischen:
- Halt, Manuelito, der Kronrat ist erst für 10 Uhr angesetzt. Dieser hier ist dein Sohn.
- Ach so ja, murmelte der König zerstreut, also - mein lieber Sohn, da du ja nun deine Eier hast, können wir über deine bevorstehende Vermählung mit Prinzessin Schogette von Schlumberger sprechen.
- Schalotte, warf seine Frau ein.
- Schalotten zum Porridge, wunderte sich der König, liebste Gattin, seid Ihr etwa wieder …? Ich dachte, wir hätten aufgepasst?
- Die Prinzessin heißt Schalotte, nicht Schogette, korrierte ihn seine Gattin gleichmütig.
- Fein, meinte der König, das passt auch besser zum Kedgeree. Äh, wo war ich?
Jetzt ergriff Mikail, der genauso gut zuhören konnte wie sein Vater, das Wort und erstmalig die Initiative:
- Liebe Eltern, ich werde ganz sicher nicht eine Frau heiraten, die wie eine Schokoladenmarke heißt und im übrigen den Eindruck macht, als ernähre sie sich nur von Produkten dieser Art.
- Ach, hast du was gegen dicke Menschen? fuhr der König leicht beleidigt auf und strich sich über seinen strammen Wanst. Das ist politisch höchst unkorrekt. Das musst du dir schleunigst abschminken. Und nicht zuletzt - hast du dir schon einmal deine eigene Silhouette betrachtet?
- Du hast recht, meine Mikail betrübt, ich sollte die Eier Eier sein lassen und überhaupt.
Der Lakai, der, dürr wie ein Hering, hinter dem Stuhl des Prinzen stand, verdrehte die Augen. Was hatte der Thronfolger bloß immer mit seinen Eiern?
- Was hast du bloß immer mit deinen Eiern? fragte ihn seine Mutter. Ich schlage mal vor, du gehst mit gutem Beispiel voran und nimmst ein paar Kilo ab. Und beginnst den Tag mit einem trockenen Toast und einem Täßchen Tee. Ohne Zucker. Und wenn deine Frau das sieht, wird sie dir als gehorsame Gattin nacheifern und ihr werdet beide rank und schlank wie die Tannen und hundert Jahre alt.
- Das macht zuammen zweihundert. Beachtlich, beachtlich, murmelte der König, dessen Geist wieder einmal auf Abwegen wandelte.
Und er fügte hinzu:
- Die Prinzessin und ihr Vater treffen heute nachmittag ein. Heute abend beim Dinner wird die Verlobung bekanntgegeben.
Nach dem Frühstück zog sich Prinz Mikail in seine Gemächer zurück. Aufseufzend ließ er seinen fülligen Körper in einen üppigen Samtsessel fallen.
Und schon war seine Kammerzofe zur Stelle und fuhr ihm liebevoll durch die öligen Locken.
- Ach Gundi, Gundi, der Vater will, dass ich die fette Prinzessin heirate. Und ich darf nicht einmal sagen, dass sie fett ist. Und ich soll auch abspecken. Woher die Kraft dazu nehmen? Ich bin ein Thronfolger, das Einzige, was ich kann, ist folgen, also folge ich. Natürlich meinem Vater, ich werde also die Schokokugel ehelichen. Aber ich folge auch meiner Mutter, die will, dass ich dünn werde, also werde ich eine Diät beginnen. Aber am meisten möchte ich doch mir selber folgen, und das hieße, meinen Gelüsten nachzugeben und den ganzen Tag Eier in allen Variationen zu essen, Spiegeleier, Rühreier, pochierte Eier, Ostereier, gekochte Eier, Wachteleier, Hühnereier, Ostereier …
- Die hatten wir schon, unterbrach ihn Gundi. Ich glaube, das Diätproblem läßt sich auf angenehme und mühelose Weise regeln. Dazu aber brauche ich die Hilfe eines Fachmanns.
Der Prinz hörte sie nicht mehr. Er hielt seine Morgensiesta, um für den Lunch - Speckpfannekuchen aus Straußeneiern - gerüstet zu sein.
Gundi verließ das Zimmer und zog leise die Tür hinter sich zu.
Im Dienstbotenraum hängte Gundi ihr Kammerzofenhäubchen an einen Nagel und schüttelte ihre schwarzen Hexenlocken in Form.Dann verschwand sie durch die geheime Pforte, die sie sich bei ihrem Einzug ins Schloß selbst gezaubert hatte, und eilte auf verschlungenen Wegen tief in den Wald hinein. Schon von weitem sah sie ihren Vater in der Tür des Elternhauses stehen, er wartete bereits auf sie. Als Hexer konnte er in die Zukunft blicken und auch in die lebenden Wesen hineinsehen, und so begrüßte er Gundi mit den Worten:
- Du brauchst gar nichts zu sagen, liebste Tochter, ich weiß, was dich herführt.
Und er hieß sie eintreten und führte sie an das dicke Zauberhauptbuch, das bereits aufgeschlagen auf dem Lesepult im Kaminzimmer lag.
Er strich ein paar Spinnweben beiseite, die von der Decke herabhingen, und wies mit dem Zeigefinger auf eine Stelle:
- Lies vor, meine Tochter, auf dass die Worte des Zauberspruchs an Kraft und Wirkung gewinnen.
Gundi tat, wie ihr geheißen, und las:
"Du sei blass und dünn und edel,
wenn ich mit dem Bypass wedel.
Sei in der Landschaft nur ein Strich,
so lieb ich dich denn ewiglich.
Almased.
Almased.
Almased."
- Was ist ein Bypass? fragte Gundi, und was bedeutet Almased?
Ihr Vater entgegnete:
- Was weiß ich? Keine Ahnung. So was wie ein Ausweis vielleicht? Und Almased klingt nach Vogelfutter. Ist aber auch egal, der Zauberspruch geht halt so und wirkt unbedingt, wenn du ihn richtig und dreimal hintereinander aufsagst.
Ein paar Monate später fand die Hochzeit zwischen dem sehr rundlichen Prinzen Mikail und der sehr wohlbeleibten Prinzessin Schalotte statt. Die Absicht, Diät zu halten, hatte der Prinz inzwischen aufgegeben. Das Zusammensein mit seiner Braut hatte ihn gelehrt, dass zu zweit zu schlemmen noch viel schöner war als allein zu genießen. Hinzu kam, dass die beiden sowohl geistig als auch körperlich bestens harmonierten. Zehn Tage lang also badeten sie im Champagner und im frischen Eheglück sowie in diversen Buttercremetorten; ein Gelage jagte das nächste, und natürlich gab es auch Eier in allen Variationen und zu Ehren der Prinzessin sämtliche Sorten Schokolade, die sich auftreiben ließen im gesamten Königreich.
Irgendwann waren alle so müde und überfressen, dass sie sich nur noch aufs Bett und einen langen, erholsamen Schlaf freuten.
(Alle - bis auf eine. Die Kammerzofe Gundi war während der zehn Tage nirgendwo zu sehen gewesen. Sie hatte sich im allerhöchsten Turmzimmer, das überhaupt im Schloss zu finden war, eingeschlossen, lebte dort von Wasser und zuckerfreien Haferkeksen und wiederholte unaufhörlich wie ein Mantra ihren Zauberspruch, um ihn im entscheidenden Moment nur ja parat zu haben. Das Ziel "Prinzessin dünn - Prinz glücklich" hatte sich fest in ihre Zaubergehirnzellen eingebrannt. Mehr konnte sie sich auch nicht merken. Auf die Idee, dass sich die Sachlage grundlegend geändert haben könnte, kam sie nicht.)
Am Abend des zehnten Tages zogen sich also die Schlossbewohner und die Gäste in ihre Schlafgemächer zurück. Auch das Braut-, jetzt Ehepaar suchte das seinige auf.
Prinzessin Schalotte putzte sich ausgiebig die Zähne, entkleidete sich mit Hilfe der Kammerzofe, die rechtzeitig aus ihrem Turm hervorgekrochen war, und legte sich auf ihre Seite des Ehebettes. Sie fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Dann kam der Prinz dran und unterzog sich im Badezimmer seinen abendlichen Waschungen.
Keiner von ihnen bemerkte, wie die Kammerzofe sich am Fußende des Ehebettes in Position brachte. Sie nutzte die ruhige Minute, um halblaut einen Spruch aufzusagen, ihn zu wiederholen und ihn schließlich ein drittes Mal zu rezitieren.
Als der Prinz das Badezimmer verließ und ans Bett trat, bekam er große runde Augen, als er die ihm frisch Angetraute betrachtete. Da waren keine wohlgerundeten Arme, keine roten Apfelbäckchen, kein gemütliches Bäuchlein, keine prallen Oberschenkel mehr zu sehen. Wieso war sie plötzlich so dünn wie eine Bohnenstange? Wo war ihre samtige, heimelige Schönheit geblieben?
Gundi, die ebenso wie ihr Vater in Wesen hineinsehen konnte, flüsterte:
- O je, ein böser Fehler ist mir da unterlaufen. Ich habe die Wandlung des Prinzen nicht bemerkt. Der Teufel trägt Prada, und sie hat mir eingeflüstert, dass Magerkeit gleich Schönheit sei. Wie kann ich bloß den Zauberspruch rückgängig machen?
Aber der Prinz hob die Hand und gebot ihr Einhalt, nicht ohne ihr mehrere tadelnde Blicke zuzuwerfen. Diese und auch die Haferkekse sorgten in der Folge bei ihr für eine zehntägige Übelkeit mit heftigem Schluckauf, so dass ihr das Zaubern für eine Weile verging.
Das machte aber nichts, denn Prinz Mikail hatte seinen Entschluss bereits ohne sie gefasst. Er würde ab jetzt nicht mehr klagen und feige andere für sich entscheiden lassen, er würde ab sofort seiner eigenen Intuition folgen. Seine Ehefrau konnte nichts dafür, dass sie jetzt so häßlich war. Von Mitleid und Zuneigung erfüllt nahm er sich vor, sie zu beschützen und vor allem mit ihr intensivst zu speisen, bis sie ihre vorherige hübsche Rundlichkeit wiedererlangt hätte.
Doch als er sie da so liegen sah, im Moment noch mager und durchsichtig wie ein Supermodel, erkannte er, dass er sie, egal, ob dick oder dünn, mehr liebte als jede Eierspeise, die er jemals genossen hatte.
Wenn man neu ist im Dorf
Von Helga Rougui
Guten Morgen, Erna! Gut geschlafen?
Ja, Paul. Es ist so schön ruhig hier. Nicht so geschäftig wie in der Holzschnitzerei, aus der wir gekommen sind.
Ja, wir haben es gut getroffen hier in Bömighausen. Nette, ruhige Leute. Und die Kinder, die hierher zum Spielen kommen, mögen uns.
Ja, ich glaube schon. Sie setzen sich auf unseren Rücken und denken sich Geschichten aus. Manchmal ist das ganz schön aufregend. Letztens bin ich mit dem kleinen Erwin in vollem Galopp über eine Prärie gerast und wir wurden von einer Meute Indianer verfolgt.
Und habt ihr es geschafft, zu entkommen?
Ja, aber nur knapp. Puh, mir zittern jetzt noch die Knie.
Da bin ich froh, dass dich kein Pfeil erwischt hat. Ich find’s nämlich richtig gut, dass du jetzt neben mir stehst. Ohne dich war es manchmal ganz schön einsam hier. Gut, es gibt die Kinder. Aber die verstehen kein Holzpferdisch.
Nur schade, dass wir nicht mal durchs Dorf galoppieren können.
Aber das können wir doch! In der nächsten Nacht wecke ich dich um Mitternacht, und du wirst sehen, was passiert in dieser einen ganz besonderen Stunde bis ein Uhr früh.
Pünktlich um zwölf Uhr nachts weckt Paul die Erna. Sie gähnt – und streckt erst das eine Bein, dann das andere vor – und erschrickt. Sie hat gerade ihre Hufe vom Erdboden hochgehoben und wagt nun den ersten kleinen Schritt. Sie ist ganz vorsichtig, denn vier Beine, das will sortiert sein, sie muss erst den richtigen Rhythmus finden. Paul hat schon mehr Übung und umkreist sie in einem leichten Trab. Schließlich laufen sie einträchtig nebeneinander her, überqueren die Neerdar über die kleine Steinbrücke und zockeln die Dorfstraße entlang. Sie galoppieren ein Stück und gelangen bis zum See. Der liegt gemütlich schlafend und ganz still in seinem Bett.
Psst, nicht wecken, flüstert Paul, er ist müde vom Wellen-Schwappen, das muss er den ganzen Tag tun, damit die Gäste was zu gucken haben.
Nun merken die beiden auch, wie müde sie sind. Sie kehren zurück zu ihrem Standplatz und beschließen, nächste Nacht wieder einen kleinen Ausflug zu machen, diesmal in die andere Richtung, den Berghof hoch und den Stendergrund bis zum Ende, da, wo der herrlich frisch duftende Wald beginnt.
Was sie nicht bemerken auf ihrem Rückweg, ist das kleine weiße Gesichtchen hinter der Scheibe eines der Häuser auf der Dorfstraße. Emil ist mitten in der Nacht aufgewacht, er glaubt, er habe Hufgetrappel gehört. Rasch läuft er zum Fenster und bekommt große runde Augen vor Erstaunen, als er die nächtlichen Herumtreiber erblickt. Aber dann freut er sich und hat plötzlich keine Angst mehr vor der Rechenarbeit, die ihn am nächsten Morgen in der Schule erwartet.
Wenn Holzpferde lebendig sind, dann kann ich auch rechnen, sagt er sich.
Und morgen, nach dem erfolgreich absolvierten Test, wird er auf den Spielplatz gehen und auf Paul oder Erna in den Sonnenuntergang reiten – als Sieger über seine Angst.
Der Goldene Stempel
(Die Waldhexe soll ein Märchen schreiben, aber das ist gar nicht so einfach ...)
Aus der Sommerpause zurück...
Helga Rougui
Elke Engel war in heller Aufregung. Schon seit einer Dreiviertelstunde suchte sie nach dem Goldenen Stempel, ohne den an einen regelrechten Anfang überhaupt nicht zu denken war. Wo hatte sie ihn nur hingepackt? Monate mussten vergangen sein, als sie ihn das letzte Mal gebraucht und - wie sie bisher angenommen hatte - wieder ordnungsgemäß verstaut hatte. Aber das silberne Kästchen auf dem Kaminsims, in der er eigentlich hätte sein sollen, war leer.
Elke ließ sich erschöpft aufs Sofa sinken und raufte sich die Haare. Das gemütliche Interieur ihres Wohnzimmers, das sich in einem ausgehöhlten Baumstamm befand, konnte sie nicht trösten. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, die sie ohne den Stempel bzw. seinen Abdruck nicht beginnen konnte. Der Abgabepunkt rückte näher und näher, und sie hatte wie immer ihre Pflicht vor sich hergeschoben, weil sie diesmal einfach keine Lust zum Schreiben hatte. Im gleichen Moment wußte sie, das war gelogen, Lust hatte sie schon, aber keine Idee.
Null, nix, nada, niente, no idea, aucune idée.
Ihr Erlebnisradius als Waldhexe war gering, woher sollten da die Abenteuer kommen? Sie hatte ihr Baumstammlogis, bestehend aus einem sehr hübschen kreisrunden Salon im Regency-Stil, darüber befand sich eine kreisrunde Bibliothek und noch darüber ein winziges, ebenfalls kreisrundes Schlafzimmer, dessen Fenster versteckt lagen unter der dichten Laubkrone des Baumes. Eine Küche gab es nicht, weil Elke nicht kochte. Sie ernährte sich von Tautropfen, die sie zu früher Morgenstunde sammelte, und von Beeren und Kräutern und Wurzeln. Diese Diät hielt sie straff, fit und gesund. (Ganz nebenbei erinnerte sie sich manchmal daran, dass sie trotz aller Zurückgezogenheit eine Hexe war, und so thronten hin und wieder auf wundersame Weise auf ihrem Mahagoniesstisch Pommes Schranke mit Currywurst oder ein Double Hamburger Royal Cheese, bei denen sie so tat, als wüßte sie nicht, wie sie dahingekommen wären.) (Wie damit zu verfahren war, wusste sie aber ganz genau.)
Egal. Was momentan zählte, war, dass der Stempel weg war. Und ohne den ging nichts. Elke öffnete ihren kleinen rosa Mund und heraus kam ein Geheule wie von zwölf wütenden Wölfen. Das brachte zwar den Stempel auch nicht her, erleichterte sie aber ungemein.
Gleichzeitig berunruhigte es ihren guten Freund Bodo Bengel, der gerade gemächlich des Weges trabte, eigentlich, um Elke zu besuchen, aber als er das Geheule hörte, hielt er inne.
Er war mutig, schließlich war er ein wilder Eber, der sich vor nichts fürchtete - außer eben vor Elke Engel, wenn sie zornig war. Sie neigte dann dazu, unschuldige Objekte und Personen zauberkräftig zu verwandeln. Einmal, beim gemeinsamen Dinner, hatte sie sich aufgeregt, und schwupps waren aus den leckeren frischen Champignons, die er gerade verzehren wollte, hässliche, fettige, panierte "Nuggets" geworden, die aber mitnichten aus reinem Gold bestanden, sondern aus einer schwabbeligen, undefinierbaren Masse. Außerdem erinnerte er sich vage, dass er vor seiner Materialisierung als Eber wohl eine andere körperliche Manifestation abgegeben haben musste - war er nicht auf zwei Beinen gegangen? Hatte er nicht einen schweren goldenen Reif auf dem Kopf getragen? Hatte man ihn nicht mit "Euer Durchlaucht" angesprochen?
Aber all das war Schnee von gestern, Spreu im Wind, war verloren, vergangen, vergessen.
Bodo Bengel war drauf und dran, umzukehren, als das Geheule in ein jämmerliches Schluchzen überging, und das rührte sein Herz. Sie war unglücklich, er war ihr Freund, also näherte er sich vorsichtig der Eingangstür und betätigte den Türklopfer.
*
Bodo war es gelungen, seine Freundin in kürzester Zeit unter Einsatz größten Feingefühls zu trösten. Ebenso entscheidend hatte auch eine Riesenpackung Toffifee dazu beigetragen, die er auf dem Kaminsims entdeckt und ihr angeboten hatte, und die Tatsache, dass sich darin neben den nougatummantelten Haselnüsschen ein goldener Stempel befand, hatte ihre Tränen vollends zum Versiegen gebracht. Er verstand zwar nicht, warum sie plötzlich durchs Zimmer tanzte und laut "Ich bin gerettet, ich bin gerettet" trällerte, aber die Hauptsache war ja wohl, dass ihr Wutausbruch und ihre Trauer gebändigt waren.Sie hatte ihn dann beizeiten hinauskomplimentiert, und Bodo verschwand in der Sicherheit des grünen, dichten Waldes in dem guten Gefühl, seine Pflicht als Freund und als sprechendes Tier umfassend erfüllt zu haben sowie mit heiler Borste davongekommen zu sein.
*
Auch Elke Engel konnte sich nun an ihre Aufgabe machen. Sie stieg hoch in ihre Bibliothek, setzte sich an den Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier, feuchtete den Stempel an und drückte ihn fest auf die obere linke Ecke des Blattes.
Dort stand nun in Großbuchstaben
*
ES WAR EINMAL (und nun brauchte sie ja nur noch das Märchen zu schreiben, nicht wahr, und in der Hoffnung auf eine göttliche Eingebung hob sie die Augen zur Decke und erblickte)
EINE DICKE FETTE SPINNE. (Na aber hallo. Jetzt ging es los.)
*
Es war einmal eine dicke fette Spinne, die hieß Esmeralda. Sie hatte immer Hunger. Mit Bedacht hatte sie ihr Netz in der oberen Ecke eines Türrahmens gesponnen, so konnte sie reiche Ernte halten unter den zahlreichen Fliegen und Mücken, die versuchten, den lieben langen Tag lang von der Terrasse draußen nach drinnen in die Stube und wieder zurück zu passieren. Im Gewimmel dieses unübersichtlichen Hin und Her blieben reichlich unachtsame Insekten im Netz von Esmeralda hängen, so dass stets ein guter Vorrat an Snacks vorhanden war.
Das fiel auch einem Spinnenmann auf, der gerade lustlos des Weges wandelte, und er flötete:
"Hey, meine hübsche Prinzessin, ich habe hier einen ganz besonderen Gegenstand für dich. Willst du mal gucken?"
Er zauberte aus seiner Hosentasche ein in Seidenpapier gehülltes Objekt, und als er die Umhüllung entfernt hatte, lag auf einer seiner Handflächen ein bezauberndes silbernes Kästchen,
"Was soll ich mit einem Kästchen? Ich habe alles, was ich brauche."
Der Spinnenmann murmelte: "Es geht nicht um das Kästchen, du Dummbatz, sondern um das, was drin ist." Den Satz murmelte er aber nur ganz leise aus gutem Grund, wollte er es sich mit der Besitzerin einer solch prallgefüllten Speisekammer nicht verderben. Dann wiederholte er den Satz ganz laut, aber ohne das D-Wort.
"Aha, soso", meinte Esmeralda, nun doch neugierig geworden, "dann zeig mal her, aber spute dich, es ist gleich Essenszeit."
Das zu hören freute den Spinnenmann, und er hoffte, an der Mahlzeit teilnehmen zu können. Esmeralda hoffte das auch. Zunächst aber klappte er das Kästchen auf und hielt es vor eines der Augen der zukünftigen Gastgeberin.
Eine kleine Musik ertönte und auf einem silbernen Podest drehte sich die feinziselierte Figur einer bunt bemalten Waldhexe, die sich immer und immer um sich selber drehte, während sie mit der winzigen Faust einen undefinierbaren Gegenstand umklammerte.
"Ach wie süß!", säuselte die Spinnendame und verdrehte drei ihrer acht Augen. "Was zum Henker soll das? Wozu dient das? Cui prodest?"
"Podest heißt das", korrigierte der Spinnenmann automatisch, der, bevor er auf Wanderschaft gegangen war, Ministerialdirektor der Abteilung "Besserwisserei" bei der Bezirksregierung Mischwald-Ost gewesen war. "Das ist Kunst, diese Statue nennt sich - warum auch immer - "Der Rettungstanz der Hexendame" und ich habe sie bei Ebay für die bedeutende Summe von 11Euro 20 ersteigert. Und hiermit schenke ich sie dir."
Das rührte die Spinnendame, der noch niemals nicht irgendjemand irgendetwas in ihrem Leben geschenkt hatte. Sie hatte eigentlich schon längst beschlossen gehabt, dem Spinnenmann - sozusagen als Vorspeise - den Kopf abzubeißen. Aber da er so freundlich war und um gar nichts ausdrücklich gebeten hatte und weil Märchen immer ein Happyend haben müssen, nahm sie sein kleines Kunstwerk, ließ ihn am Leben und heiratete ihn.
Und wenn sie ihm nicht doch irgendwann den Kopf abgebissen hat, lebten sie beide glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.
*
Spät in der Nacht legte die Waldhexe den Stift beiseite und küßte den Goldenen Stempel. Mehr ging nicht. Das Werk war vollendet, und die Sterne funkelten nah und hell.
Sie lehnte sich zurück, schaute nach oben und winkte dankbar der Spinne zu - oder waren es zwei?
Frieda brütet
Helga Rougui
An diesen Tagen, in diesen Nächten machten alle, ausnahmslos alle einen großen Bogen um sie.
Siegfried, an sich Herrscher aller Hühner, war nach vollzogener Pflicht bis zum nächsten Einsatz Zeugungstäter im Wartemodus und ab nun nur noch potentieller Störenfried des Nachwuchsausformungsvorgangs. Er verbrachte die meiste Zeit hinten im Garten, um zu tun, was ein Mann in seiner Situation zu tun hatte. Kratzen, Krähen, König sein.
Und ihr aus den Augen zu gehen, möglichst umfassend.
Anais, Berta, Chloe, Doris, Edwinna und Gundi, ihre allerbesten Freundinnen im Harem, hyperventilierten nervös ohne Unterlaß und bewegten sich nur in Zeitlupe unter extrem leisem Gackern um die Stelle, die sich Frieda jeweils für ihr Nest erwählt hatte.
Dort saß sie breitfedrig und aufgeplustert, um nahezu bewegungslos zu verharren und aus runden, kleinen, stets erstaunt blickenden Augen Gedankenlöcher in die Luft zu starren. Ab und an ging ein Ruck durch ihren Kopf, ihren Oberkörper, sie drehte den Hals nach rechts, nach links, sich der Ruhe und des Friedens um sich herum versichernd. Die anderen bildeten einen unsichtbaren Kreis um sie, den sie beherrschte und der sie schützte. Nur wenige Lebewesen gab es, die die Bannmeile durchbrechen mochten, ohne Schaden zu nehmen.
Friedas Blick fiel angelegentlich auf zwei Regenwürmer, die sich angeregt durch den seit Tagen anhaltenden Nieselregen aus der feuchten, weichen Erde gequält hatten und nun einen Wettlauf gegeneinander hinlegten, daß die Matschpartikel nur so spritzten. Das Ziel dieses Wettlaufs blieb ein Geheimnis, tief versteckt in ihren winzigen Regenwürmergehirnen, in die außer diesem einen Gedanken, nämlich dem, ebendort anzukommen, nicht mehr viel anderes hineinpaßte.
Frieda fühlte sich den Würmern seelenverwandt, jedoch nur in diesen seltsam entrückten, gleichsam schwerelosen Momenten ihrer selbst bestimmten Brutzeit, in der sie körperlich wie gelähmt ihre Gedanken paradoxerweise auf ihren persönlichen Wettlauf richtete, den Wettlauf gegen die Zeit, der für sie in einem reinen Aussitzen der Lage bestand, und ihr Ziel füllte ihren Kopf, nämlich lange genug Geduld und Sitzfleisch aufzubringen, bis ihr Werk vollendet war.
Ihre Freundinnen riskierten einen Blick in ihre Richtung, sahen, wie die Regenwürmer an ihr vorbeieilten, und dachten dies und das. Bewunderung und Unverständnis hielten sich die Waage. Man traute sich aber auch nicht, sich der saftigen, doch momentan sakrosankt scheinenden Exemplare zu bemächtigen, da Frieda überaus zickig werden konnte, wenn man, sei es auch nur per Zufall, in ihren Dunstkreis hineingeriet. Das letzte dumme Huhn, das sich ihr nicht einmal aus bösem Willen, sondern aus purer gefräßiger Unachtsamkeit genähert hatte, um sich in einer ähnlichen Situation schadlos zu halten, lief noch heute mit beträchtlichen Kahlschlägen im Gefieder herum und war der höfischen Umwelt eine Lehre.
Fakt war, daß Frieda eine eigenartige Faszination auf sämtliches wimmelnde, sich windende Getier ausübte, wenn sie in diesen komatösen Zustand geriet. Dann und nur dann waren diese bodennahen Wesen in absoluter Sicherheit, vor Frieda sowieso, die über ihnen thronte wie eine wenn auch unfreiwillige Schutzgöttin und das, was sonst ihre Leibspeise darstellte, lediglich auf einer appetitfreien Metaebene wahrnahm, sowie eben auch vor all den anderen, die sich nicht in Friedas Nähe trauten, all ihrer Gier zum Trotz.
Und so herrschte um die gemächliche Brüterin herum ein reges Kriechen und Krauchen, während sie wie abwesend und ohne sich zu rühren alle Wärme, die sie in sich versammeln konnte, ihrem Unterboden entgegenleitete, auf daß diese Wärme Gutes bewirke und Leben erschaffe und entwickele und vollende.
Aus diesem Zustand konnten Frieda eigentlich nur zwei Dinge teils kurz-, teils längerfristig erlösen.
Einmal war das der imperiale Ruf zur Nahrungsaufnahme morgens und abends; für wenige Minuten verließ sie ihre oberflächlich mit einigem leicht darübergeschobenem Stroh bedeckte Wirkungsstätte, aß und trank hastig, ohne etwas zu schmecken, um sich unverzüglich wieder an die ihr vom Schicksal und sich selbst zugewiesene Stelle zu verfügen.
Zum anderen war das natürlich der Endpunkt des Vorganges selbst, der sich nach etwa drei Wochen immer gleich, nämlich durch ein dumpfes Rumoren und spitze, abgehackte Geräusche unter ihr ankündigte.
Dann erhob sich Frieda etwas steifbeinig, jedoch durch und durch majestätisch, trat beiseite und gab den Blick auf ihr Gelege endgültig frei, zahlreiche unter den mistverklebten Stellen strahlendweiße Eier kamen zum Vorschein, in deren Außenhüllen sich bereits die ersten erfolgreich gepickten Dellen und Bruchlinien abzeichneten.
Und nun zum Abschluß der Aktion begann der Wettlauf des Friedaschen Nachwuchses untereinander, die Küken rangen verbissen mit den Schalen, jedes wollte das erste sein, sie abzustreifen, bedeutete das doch den Platz genau hinter der Glucke plus die wärmste Zuwendung plus die fettesten Regenwürmer plus die größte Sicherheit.
In dem Maße, wie die Küken sich freikämpften, zogen sich die Würmer eilig zurück, wobei, wer zu spät ging, den bestrafte das Leben derart, daß er dem Siegerküken als allererster Frühstückswurm zu dienen hatte, eine zweifelhafte Ehre, auf die keiner der nun wieder vom Studienobjekt zum Nahrungskettenglied Degradierten so recht Wert legte.
Nach einer Weile war es dann soweit, Frieda stolzierte an der Spitze ihrer frischgeschlüpften, fast getrockneten Nachkommen quer über den Hühnerhof, eingebildet wie der Obergockel persönlich, der sich inzwischen aus den Untiefen der hinteren Gärten in den vorderen Bereich zurückgemeldet hatte, auch die Freundinnen umringten sie jetzt, ihrer durch allgemeine Erleichterung gestützten Bewunderung durch lautes Gackern Ausdruck verleihend.
Frieda war hochzufrieden, hatte ihre Bestimmung erfüllt und konnte sich der Position der Lieblingsfrau im Harem ihres Gockels sicher sein.
Und wodurch?
Durch die Erzeugung einiger quietschegelber kleiner Federbällchen.
Aus denen Hähne werden, oder Hühner.
Oder Brathähnchen beziehungsweise Suppenhühner.
Kinder sind unsere Zukunft, auch wenn sie irgendwann aufgefressen werden.
Was sie mit den Eltern gemeinsam haben.
Denn wer macht am Ende das Rennen?
Die Würmer.
Der Sex des Alters
Helga Rougui
Ich bin alt.
Ich habe einen Filofax mit Kalendereinlagen, die ich jährlich neu kaufen und austauschen muss. Ich führe mein Tagebuch mit der Hand, und meine Einkaufszettel schreibe ich auf ein kleines Blatt Papier, das ich aus einem Notizblock reiße. Man weist mich darauf hin, dass die benötigten Dinge im Handy zu notieren viel praktischer sei. Das mag sein, aber in meinem Falle nicht. Ich habe weder Handy noch Smartphone. Auch keinen Laptop, kein Tablet, keinen PC.
Ich schreibe mit Bleistift auf Papier.
Immerhin nicht mehr mit Gänsekiel auf Pergament.
Nun lief ich letztens durch den Supermarkt, bzw. ich schob mich an meinen Rollator geklammert an den Regalen entlang, als ich ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier vor der Auslage mit den exotischen Früchten bemerkte.
Sieh da, dachte ich, hob das Papier auf und entfaltete es. Es gibt noch andere Leute, die ihre Einkäufe altmodisch notieren. Seltsam - nach einem Einkaufszettel sah das eigentlich nicht aus, wenn man die einzelnen Posten durchging. Ein "Fön" unter all den Lebensmitteln? Wobei es sich bei denen auch nicht gerade um die Abdeckung rudimentärer Basisbedürfnisse handelte. Und zum "Haarwachs" passte der Fön auch nicht so richtig.
Das sah eher aus wie - wie - .Wo hatte ich so was schon mal gesehen?
Vor langer Zeit, am Anfang meiner Schreibkarriere, hatte ich einmal einen Kurs über "Kreatives Schreiben" besucht, und da gab es Aufgaben, die mit willkürlich gewählten Begriffen spielten, mit denen man unter Einhaltung bestimmter Vorgaben Texte erstellen sollte. Ich drehte den Zettel um und sah meinen Verdacht bestätigt. Auf der Rückseite stand eine "5". Was bedeutete, dass es noch mindestens vier weitere Zettel mit ähnlichen Begriffen geben musste. Ich überlegte, wie wohl die Aufgabe lauten könnte. Etwa: Schreibe einen möglichst kurzen Text, in dem die von dir gezogenen sechs Wörter in der hier gegebenen Reihenfolge vorkommen. Sie dürfen dekliniert werden, aber nicht doppelt oder mehrfach auftauchen.
Ich steckte den Zettel ein und sah auf meinen eigenen. Tomaten, Entrecôte, Baguette, Camembert, Rotwein, Haftcreme. Was für eine Geschichte ließ sich daraus basteln? Da war kein langes Nachdenken nötig. Eindeutig ging es hier um das Abendessen einer alten Frau, die dank eines gut fixierten Gebisses ein französisches Diner zu schätzen wußte und einem kräftigen Schluck durchaus nicht abgeneigt war.
Was die andere Liste betraf, so zeichnete sich vor meinem inneren Auge schon eine hübsch lüsterne Geschichte ab, beginnend mit der vorbereitenden Körperpflege, unter anderem Haare waschen, trocknen, stylen. Dann eine leichte Mahlzeit, einen Salat von Avocado und Gambas, begleitet von Sekt, dem klassischen Getränk der Verführungskunst. Letztere in erotischen Liebesspielen mündend, beispielsweise Verteilung von Sprühsahne auf diversen Körperteilen und deren Beseitigung mittels Zunge.
Der Aufbau der Geschichte stand in meinem Kopf wie eine Eins.
Blieb zu hoffen, dass den weiblichen Part der Szenerie eine ähnliche Standfestigkeit von männlicher Seite erwartete.
Einen Fuß vor den anderen. Vorsichtig. Ungelenk. Ungewohnt.
Helga Rougui
Was fällt Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin, zu "Lucy in the Sky with Diamonds" ein?
Natürlich - die Beatles und ihr Song aus den Sechzigern, FlowerPower, Farbenrausch.
!974 wurde der Song in einem archäologischen Ausgrabungslager in Äthiopien gespielt - und diente als Namensgeber für ein sehr besonderes Wesen, das registriert wurde unter der Nummer:
AL 288-1
Einen Fuß vor den anderen. Vorsichtig. Ungelenk. Ungewohnt.
Sie hatte keine Wahl gehabt. Der Weg, den sie hatte einschlagen müssen, bot keinen Baum, keinerlei Geäst, an dem entlang ihre kräftigen Arme sie hätten entlangtragen können.
Es war der einzige Weg, der zum See führte, in dem vielleicht noch etwas Nässe war. Zwar würde es bald Wasserwetter von oben aus den entfernt aufziehenden Wolken geben, das fühlte sie in jedem ihrer 207 Knochen. Aber es ließ sich Zeit, und sie konnte nicht warten.
Sie hatte Durst. Jetzt.
Sie spürte die Dürre, die flirrende Hitze, die Trockenheit auf ihrer Haut. Dunkel und schweißfeucht spannte sie sich über ihrem Bauch. Das dichte Fell auf ihren Schultern schützte sie vor der sengenden Sonne, es war schwer von Schweiß.
Weiter. Fuß vor Fuß. Schritt für Schritt. Jetzt, nach der Hälfte des Weges, ging es sich besser. Ihre Knie zitterten nur noch leicht.
In der Nacht zuvor war die Horde eng zusammengerückt, trockene Kehllaute standen für Durst, ein Fauchen stand für Angst. Der Weg zum See war weit, es gab Tiere. Die Sterne funkelten am Himmel wie Diamanten, hart und fern, mitleidlos. Gegen Morgen sah sie ihr Junges, so groß wie ein kleines Schimpansenbaby, wie es nach Luft schnappte und dann damit aufhörte, dies zu tun. Sie zog sich hoch, stellte sich auf ihre Beine, das Fauchen um sie herum nahm zu, es kümmerte sie nicht..
Weiter. Fuß vor Fuß. Schritt für Schritt. Sie konnte das Wasser schon riechen. Die Hoffnung, dass keine gefährlichen Tiere Durst verspürten zur gleichen Zeit wie sie.
Plötzlich mehr dunkle Wolken am Himmel, feuchte Gebirge, drohend.
Sie stand am Ufer des Sees, als die Schleusen des Himmels sich öffneten und in kürzester Zeit den Fluss, der den See speiste, zu einem reißenden Strom anschwellen sieß.
Plötzlich war das Wasser überall, überall Schlamm und Matsch, es half nicht, dass sie sich auf alle vier Gliedmaßen stützte, sie verlor den Halt und prallte auf die Felsen am Ende der steilen Böschung. Der See empfing sie mit offenen Armen und füllte ihre Lungen mit Wasser.
Ihr letzter Blick ging zum Himmel. Keine Sterne, Dunkelheit.
Vor 3,2 Millionen Jahren ertrank in Hadar, Äthiopien, eine junge Frau von 25 Jahren in einem See. Der Schlamm bedeckte ihre Leiche, und so wurde sie von dem kurz danach vorbeiziehenden Rudel Löwen nicht gefunden.
Wo sind denn alle?
Helga Rougui
Sie schläft. Die Nase im Kopfkissen hört sie den Wecker klingeln. Sie steht auf. Während sie ins Bad geht, zieht sie sich das Nachthemd über den Kopf. Sie setzt sich aufs Klo, sie nimmt eine Dusche, sie sucht sich ihre Unterwäsche, ihre Socken, ihre Kleidung zusammen. Sie zieht sich an, sie bürstet ihre Haare und schminkt sich Augen und Lippen.
Die Kaffeemaschine brodelt, sie trinkt die erste Tasse Kaffee. Sie ißt eine Scheibe Brot mit Butter und Erdbeermarmelade und eine zweite mit Salami und schneidet eine Tomate dazu. Sie checkt ihre Mails, Werbung, Annika ist schwanger, Udo geht nach Amerika, Werbung. Der Kater streicht schon eine Weile um sie herum. Sie öffnet eine Dose Katzenfutter, rümpft die Nase und füllt den Freßnapf.
Sie verläßt die Wohnung. Am Auto angekommen kramt sie in ihrem Rucksack nach dem Autoschlüssel, schließt die Fahrertür auf, steigt ein und biegt nach rechts in die Hauptstraße ab. Eine Ampel springt auf Rot. Sie gähnt. Es ist noch früh. Die Ampel springt auf Grün. An der Tiefgarage des Bürogebäudes angekommen steckt sie ihre Chipkarte. Die Einlaßschranke hebt sich. Sie findet direkt im vorderen Bereich einen für Frauen reservierten Parkplatz.
Sie begibt sich an ihren Arbeitsplatz. Der Aufzug bringt sie in die sechste Etage. Dort hat die Firma ihren Sitz. Sie öffnet die Tür zu ihrem Büro, legt ihre Sachen ab und setzt die Kaffeemaschine in Gang. Sie schaltet ihren Rechner ein. Ordner, Dateien, Dossiers, Formulare. Um halb zehn Uhr ißt sie ein Knoppers das Frühstückchen. Genehmigungen, Verpflichtungserklärungen, Unterlagen zur Weiterleitung.
Mittags in der Kantine nimmt sie ein Tablett und geht zur Essensausgabe. Sie wählt einen Teller mit paniertem Schnitzel und Pommes, keinen Salat. Sie setzt sich in eine Ecke an einen freien Tisch und ißt.
Nach einer halben Stunde geht sie wieder in ihr Büro. Sie schaut auf den Bildschirm. Kostenaufstellungen, Erstattungsanträge, Statistiken, Tabellen. Papiere, Papiere, Papiere. Sie sieht auf die Uhr. Sie macht Feierabend.
Sie geht zum Arzt. Sie betritt die Praxis. Sie kann sich direkt ins Wartezimmer setzen. Sie betrachtet abwechselnd den Gummibaum und ein überdimensionales abstraktes Gemälde. In der Kinderspielecke stehen zwei kleine Holzstühle und ein Tischchen. Darauf liegen Bauklötze und Bilderbücher mit Abbildungen von Zootieren und Planeten. Sie geht in den Untersuchungsraum, macht den Oberkörper frei, legt sich auf die Liege. Sie schließt die Augen. Sie fühlt die Saugnäpfe des Meßgeräts und hört, wie der Ausdruck mit der Herzkurve aus dem Ausgabeschlitz des Apparats rattert. Sie zieht sich wieder an und verläßt die Praxis.
Sie geht einkaufen. Mit einem Einkaufswagen betritt sie den Supermarkt. Ihr Blick streift über die Waren in den Regalen. Zuerst steuert sie die SB-Fleischtheke an. Blut, Fasern, Knochen, Fett. Sie legt ein in Zellophan verpacktes Steak und ein Päckchen Lungenhachee für den Kater in ihren Wagen.Sie geht an der Brottheke vorbei. In der Obst- und Gemüseabteilung sieht sie Rot, Grün, Blau, Gelb. Äpfel, Zucchini, Weintrauben, Bananen. Sie geht zur Kasse, legt die Waren auf das Band, das Band ruckt an und läuft. Der Scanner piept piept piept piept piept piept. Sie holt ihr Portemonnaie heraus und öffnet es. Sie schiebt ihre Amexkarte in den Schlitz des Lesegeräts und tippt ihre Geheimzahl in die Tastatur. Sie packt das Fleisch, das Obst und das Gemüse in eine Plastiktüte und trägt die Tüte zum Auto. Sie öffnet den Kofferraum und stellt die Tüte hinein.
Sie geht schwimmen. Sie betritt das Schwimmbad und entwertet ein Feld ihrer Zehnerkarte am automatischen Einlaß. In der Umkleide zieht sie ihren Badeanzug an, geht dann in den Duschraum und sucht sich eine Einzelkabine. Sie geht in die Schwimmhalle und steigt die Treppe zum Becken hinunter. Sie verzieht das Gesicht, es ist Warmbadetag. Sie schwimmt. Wasser Beckenrand Wasser Beckenrand Wasser Beckenrand. Sie schwimmt zwanzig Bahnen. Dann verläßt sie das Becken und geht wieder in die Umkleide. Der Föhn funktioniert. Es gibt keinen Spiegel. Sie geht zum Ausgang und verläßt das Schwimmbad.
Sie fährt nach Hause, räumt die Lebensmittel in den Kühlschrank und sieht nach dem Kater.
Sie geht ins Kino. Sie betritt den Vorraum, geht zur Kasse. Sie legt einen 50 Euro-Schein auf die Theke, zählt das Wechselgeld und nimmt ihr Ticket. Sie will sich eine XXL Tüte Popcorn und einen Maxibecher Cola holen, aber das Erfrischungsbuffet ist geschlossen. Ein vergilbtes Plakat wirbt für "Die Wüste lebt". Der Film läuft schon lange nicht mehr.
Sie sieht den Eingang zum Kinosaal. Dann sieht sie nichts in der Dunkelheit der Eingangsschleuse. Die Reihe mit ihrem Platz ist unbesetzt. Sie nimmt ihren Platz ein. Die Werbung ist vorbei. Es wird dunkel. Die Leinwand wird hell. Sie sieht die Leinwand. Sie sieht auf die Leinwand.
Mike Leigh, Another Year. Vorspann. Der Film beginnt.
da sind sie ja
und ich dachte schon alle wären unsichtbar
Sie sieht den Film. Sie sieht den Abspann. Es wird hell. Sie sieht leere Becher, leere Tüten von der Nachmittagsvorstellung unter den Sitzen. Sie verläßt das Kino.
Draußen. Frische, feuchte Luft.
Ein Regenguß kündigt sich an.
Sie schöpft Hoffnung.
Es ist höchste Zeit.
Whisky oder Fencheltee?
Helga Rougui
Wissen Sie, ob Sie nach Ihrem hoffentlich noch in ferner Zukunft liegenden Ableben in den Himmel oder in die Hölle kommen? Oft ist der Fall nicht klar, Engel und Dämon streiten um Ihre Seele, und manchmal muss dann doch jemand ex machina die Entscheidung fällen ...
Und so sieht das dann aus:
Es ist die Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen. Das Café am Rathausplatz in D. hat sich geleert, ein Kellner lehnt an der Theke, falls einer der übriggebliebenen Frühstücker herüberwinkt für ein letztes Gläschen Sekt. Aus der Küche dringen Geräusche, Töpfeklappern, leise Anweisungen, das Mittagessen ist in Vorbereitung.
Zwei Frauen - oder sind es Damen? - betreten das Café. Unterschiedlicher könnten sie nicht sein. Die eine rothaarig, grünes Kleid, rote High Heels, ein überstark geschminkter Mund. Schwarz ist der Lippenstift wie die Nacht, die grünen Augen leuchten wie die grüne Hölle von Bollendorf. Der Kellner strafft sich unwillkürlich - um beim Anblick der zweiten Erscheinung entspannt zusammenzufallen. Blond ist sie, natürlich, rosig, ungeschminkt, weißes schmales Kleid und flache Schuhe, saphirblaue Rehaugen, Audrey Hepburn in "Roman Holiday".
Gebieterisch winkt die Rothaarige die andere zu einem Tisch in einer Ecke, die sich zustimmend lächelnd ebenfalls dort niederläßt.
- Hier können wir in Ruhe reden. aber erst mal Frühstück.
Der Kellner steht bereit, nimmt die Bestellung auf, schlägt vor:
- Das Luxusfrühstück für zwei Personen, meine Damen?
- Ach was, für mich einen doppelten Scotch auf Eis und sechs frische Austern.
Und du, Uriel, das Gleiche?
Die Frage kommt leicht spöttisch, während sich der Kellner gleichzeitig über den Namen für die blonde Lichtgestalt wundert.
Uriel antwortet geduldig:
- Danke, Baobhan-Sith, aber du weißt doch, ich vertrage keinen Alkohol. Ich nehme einen Fencheltee und eine Schale Manna mit Frohlocken.
Der Kellner guckt, während Baobhan-Sith dazwischenfährt:
- Sie meint Mandarinen mit Haferflocken. Ohne Chili, stimmts, Uriel? Nun aber flott, flott, der Herr.
Der Kellner entfernt sich, die beiden Damen rücken zusammen.
Baobhan-Sith beginnt. Sie zischt:
- Also wenn du glaubst, ich lasse mir meine Beute so leicht entwinden -
- Das ist keine Beute, Bao, sondern ein sehr junger, sehr verletzlicher Jüngling, der gerade erst - unter meiner Leitung - zu seiner Bestimmung gefunden hat.
- Du mit deiner Bestimmung. Deine Aufgabe, Autoren mit kreativen Ideen zu versehen, ist doch lächerlich. Außerdem habe ich ihn die ganze Zeit mit herrlich giftigen Einfällen vollgeblasen, die ihn überhaupt erst zum Bestsellerautor gemacht haben. Was glaubst du, worauf die Leute abfahren? Auf dein liebliches Zuckerzeuggeschreibsel oder auf Sex-Horror-Crime-Thriller?
- Das ist ja nun auch egal, meint Uriel leicht betreten. Auch sie hat feststellen müssen, daß die Verkaufszahlen von "Koks im Arsch des Drachen", dem letzten Roman ihres Schützlings, enorm angezogen haben. Sie wischt eine Träne weg.
- Egal, nimmt sie den Faden wieder auf. Er hat nun mal diesen Tumor und nicht mehr lange zu leben, und ich bin bereit, ihn ins Licht zu führen.
- Das wird dir nichts nützen, meine liebe Uri, auf ihn wartet das Feuer der Hölle. Ich habe schließlich bewirkt, dass er sich mit bösen Gedanken geradezu vollgesogen hat. Er gehört mir.
- Ja, aber er hat durch sein neuestes Werk jede Menge Arbeitsplätze gesichert und Buchhandlungen vor dem Ruin gerettet. Das Mittel mag nicht gerade himmelsadäquat gewesen sein, aber das Resultat war göttlich. Gut und selbstlos.
- Ach, und die Millionen, die er verdient hat? Die Ferraris, die Weiber, das Lotterleben? Der Alkohol? Die Drogen?
- Er hat immerhin gespendet. Für die verschiedensten krebsbekämpfenden Organisationen.
- Aber erst nachdem er krank geworden ist. Sieht nicht nach Selbstlosigkeit aus.
Der Kellner kommt mit dem Frühstück. Fencheltee und Mandarinenporridge, Austern und Whisky.
Die Damen schweigen, während in unendlicher himmlischer Höhe Gott und Satan die Köpfe zusammenstecken.
- Was meinst du? Wird der Autor demnächst seine Lesungen in deiner Hölle oder in meinem Himmel abhalten?
- Ich weisesnich, ich weisesnich, und wenn ichs wüßt, ich sechtet nich, versucht sich Satan an einem plattdeutschen Spruch, den er irgendwann mal aufgeschnappt hat.
- Also, ich finde, schließt Gott die Überlegungen ab, der Autor ist schon ein rechter Schwerenöter, aber unterm Strich bleibt doch, dass er rasant gut geschrieben hat. Im Zweifel für den Angeklagten.
Während Satan beleidigt schweigt, sendet Gott mit seinem göttlichen Zeigefinger eine Botschaft direkt an den Frühstückstisch.
Und so kommt es, dass vor den Augen des verblüfften Kellners das Whiskyglas und die Schalentiere zu grünem Staub zerfallen - während goldene Blumen aus der Teetasse und der Haferpampe sprießen.
Engel und Dämon schauen nach oben. Dann einander ins Gesicht.
- Die Entscheidung ist gefallen, Man sieht sich, sagt Uriel und erhebt sich.
- So ist es, sagt Baobhan-Sith und strebt ebenfalls dem Ausgang zu.
Aber - es gibt ein nächstes Mal. Und dann - wird man sehen ...
Salzkörner
Helga Rougui
Die Suppe im Salz?
Nee nee, der Fisch in der Salzkruste muß das heißen, genauer gesagt, der Loup de Mer in der Meersalzkruste, die wird dann aufgehämmert, und der weiße, zarte Fisch liegt in voller Pracht duftend auf dem Teller. Aber doch, auch die Suppe kann im Salzgefäß zubereitet werden, da heißt es dann etwas schneller essen, sonst hat man sich selber die Suppe versalzen,
Es gibt ein Kochbuch, ein Standardwerk, herausgegeben von Henriette Davidis um die vorige Jahrhundertwende, meine Ausgabe ist von 1905, das war der guten Hausfrau Ratgeber, Brevier und inspirierende Lektüre in einem, und die Hausfrau widmete sich dieser Lektüre nach getanem Hausfrauentagwerk in der Muße der bürgerlichen Abendstunden.
In diesem Buch gibt es ein Kapitel, das sich mit der Kost der Kranken befaßt. Es sind Suppen aufgelistet, deren übereinstimmendes Merkmal es ist, kein Salz und somit keinen Geschmack zu beinhalten, weil Salz schlecht für die Gesundheit sei, wenn nicht sogar per se et eo ipso böse und des Teufels, also ist es von der Liste der rekonvaleszenzunterstützenden Genüsse schon mal grundsätzlich ausgeschlossen, und wenn all diese Suppen auch nach nichts schmecken, so ist das doch egal angesichts des immensen gesundheitlichen Gewinns, den man davonträgt, indem man sich auf diese Rezepte beschränkt.
Was nicht heißt, daß sich in diesem Kochbuch keine salzhaltigen Rezepte finden, man nehme nur das Rezept, Schnecken zuzubereiten.
Schnecken. Sie müssen ausschleimen, die armen Schnecken, damit man sie essen kann, und das tun sie nur, indem man sie überreichich mit Salz bestreut. Ob das den Schnecken gefällt, ist fraglich, aber dem wackeren Esser gefällt es sicherlich.
Was zeigt – Salz ist für die einen gefährlich, für die anderen unverzichtbar.
Wie wichtig Salz ist, habe ich als Kind durchs Lesen erfahren. „Die Höhlenkinder“ hieß der Romanzyklus, und die beiden Protagonisten, Eva und Peter, waren so lange unglücklich, wie ihre Nahrung salzlos war. Eines Tages fand der Junge – oder der junge Mann – eine Salzlecke, die vom Wild benutzt wurde, er brach ein Stück vom Salz ab und brachte es nach Hause zu Eva, die das Jagdfleisch damit einrieb, und sie brieten es über der Glut – eine Art jungsteinzeitliches Slow-Cooking sozusagen, und etwas, von dem sie nicht gewußt hatten, daß es ihnen fehlte, war plötzlich da und rundete das Dasein ab und die Geschmacksnerven auf.
Salz ist wichtig, Überlebenswichtig. Ohne Salz hätten sich die Höhlenkinder gegenseitig totgeschlagen.
Auch in menschlichen Beziehungen darf das Salz nicht fehlen.
Das kann sein das Salz auf der Haut, wenn man mit seinem Geliebten am Atlantik spazierengeht und bein Küssen merkt, daß er das Salz der blauen Meereswolken auf seinen Lippen trägt – das kann sein, daß der Drang übermächtig wird, mit diesem einen Menschen und keinem anderen zusammensein zu wollen - das ist das Salz in der Suppe der menschlichen Beziehungen, das sich gemeinhin Verliebtheit nennt, das kann anhalten und kann auch schnell vorbei sein, aber solange es dauert, ist es gar köstlich und wunderbar.
Salz muß sein. Ohne Salz schmeckt uns die Lebenssuppe nicht.
Begegnungen. Keine Geschichte
Helga Rougui
Begegnungen sind das Salz in der Suppe des Lebens.
Ohne Begegnungen ist keine Bewegung, nur stilles Abwarten – wenn die Begegnungen aufhören, endet das Leben.
Einerseits die regelmäßigen, alltäglichen, banalen Begegnungen, die dich jedes Mal aufs neue merken lassen: du existierst in deiner Realität, indem du dich an anderen Existenzen reibst, ohne sie zu berühren oder gar zu durchdringen, sowie auch die wiederkehrenden tröstenden und freudigen Begegnungen, die - kleine Variante - der Zucker im Kaffee deines Lebens sind.
Das ist die unverzichtbare Basis. Die Alternative ist Einsamkeit.
Andererseits die außergewöhnlichen, faszinierenden, atemberaubenden Begegnungen, an die du dich dein Leben lang erinnerst, die folgenschweren Begegnungen, durch die sich dein Leben verändert sei es im guten oder schlechten Sinne, die wichtigen augenöffnenden Begegnungen, durch die du dich, welche Chance, vielleicht verändern darfst, wenn du sie verstehst.
Das sind die Glücksfälle, die Sahnehäubchen deines Daseins. Die Alternative ist Langeweile.
Es sind zu viele - und in deinem Kopf ballt sich aus mancherlei Gründen diesmal keine Begegnung, erlebt oder erfunden, zu einer Geschichte zusammen.
Dabei mangelt es dir nicht an Begegnungen.
Morgens begegnest du deinem Freund, der sich fluchend in seinen Arbeitstag hineinarbeitet.
Wenn du über die Autobahn zur Arbeit fährst, begegnest du einer Vielzahl von Idioten hinterm Steuer, die alle noch nicht richtig wach sind und dementsprechend fahrkunstmäßig nicht in die Gänge kommen, und du bist natürlich wieder mal die einzige, die zügig und reaktionsschnell zur Arbeit flitzt.
Auf der Arbeit angekommen triffst du wie jeden Morgen deine lieben Kollegen, die dich scheißfreundlich begrüßen, während sie bereits überlegen, an welcher Stelle sie dir den Dolch in den Balg rammen können.
Und das Highlight dieser Art Begegnung ist dann deine Chefin, die freundlich falschlippig Tadel verteilt, die um so schlimmer sind, als sie im Gewand des Liebreizes einherkommen.
In der Mittagspause dann siehst du dich einer grobschlächtigen weißbekittelten Dame mittleren Alters gegenüber, die mit mürrischem Gesicht eine oder zwei Kellen undefinierbares Zeugs auf deinen Teller knallt, und den schlechten Appetit dazu wünschst du dir dann schon mal lieber selbst.
Nach Feierabend, beim Einkaufen, legst du der mißmutigen Kassiererin an der Schnellkasse deine sieben Einkäufe aufs Band. Die dich anranzt, ob und wo du offensichtlich nicht bis fünf zählen gelernt hast.
Und abends begegnest du wieder deinem Freund, der schlagkaputt und reichlich angefressen von seiner Arbeit kommt und dessen Interesse an deinem Tagesablauf darin besteht, sich zu fragen, wieso das Essen noch nicht auf dem Tisch steht.
Dir begegnen offensichtlich deine Begegnungen als Gegner.
Du armer, zutiefst gebeutelter, unglücklicher Mensch.
Aber da ist auch die Begegnung mit deiner langjährigen Freundin, die du einmal in der Woche triffst, die dich voll und ganz versteht und als einzige keine Forderungen an dich stellt.
Oder die Kollegin, die dir von sich aus hilfreich zur Seite steht, wenn du einem unlösbaren Problem gegenüberzustehen meinst.
Und dann an einem ihrer guten Tage findet die Chefin ein ehrliches Wort der Anerkennung für eure ersprießliche Zusammenarbeit und ein echtes freundliches Lächeln.
Mittags schenkt dir die nette Kantinenhilfe, wenn du dich mal wieder nicht für ein Dessert entscheiden kannst, einfach das andere dazu.
Später, im Supermarkt, macht dich die freundliche Kassiererin darauf aufmerksam , daß eine von den Tomaten in deiner Packung faul ist, und die geduldigen Menschen in der Schlange hinter dir warten ohne zu schimpfen, bis du vom anderen Ende des Ladens eine neue Packung geholt hast, die in Ordnung ist.
Und abends nach dem Essen wartet dein Freund nur auf dich, der dich in die Arme nimmt und dir das Gefühl gibt, du seist für ihn der einzige Schatz auf der Welt, und der dich aushält, wenn du unglücklich oder inkonsequent bist.
Wie du in deine Begegnungen hineinrufst, so schallt es heraus.
Wie gut, daß das Leben aus Begegnungen besteht.
Aber eine Geschichte wird das diesmal nicht.