Und der Esel?
Helga Rougui
I.
Katzen sind, wie wir wissen, die wahren Herrscher dieser Welt. Sie sind die geheimen Drahtzieher, haben ihre spitzen Öhrchen an jedem Mauseloch, stecken in jeder Intrige drin, mischen überall mit. Sie sind neugierig und gemein, anmaßend und Leckermäulchen sind sie auch. Ihre Psyche ähnelt der einer schlecht gelaunten Diva.
Maike besaß ein solches Exemplar, oder besaß der Kater etwa sie? Wenn Fridolin sie mit seinen grünen Augen fixierte, überlegte sie unwillkürlich, was sie wohl angestellt haben könnte. Und tatsächlich fiel ihr dann auch immer etwas ein, was mit der Pflege ihres kostbaren Hauskätzchens zu tun hatte. Die Leber nicht akkurat kleingeschnitten, das Fell nicht richtig gekämmt, das Katzenklo nicht schnell genug gesäubert, das falsche Fernsehprogramm eingestellt, kein Leckerli aufgetischt - die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Fridolin kam und ging, wie es ihm paßte. Das konnte er gefahrlos tun, denn in dem Dorf, in dem Maike wohnte, gab es außer einem gelegentlich vorbeiknatternden Trecker kaum Verkehr. Es war von dichten, grünen Wäldern umgeben, den Ortskern bildete der Dorfplatz mit der Bushaltestelle, der von der Dorfstraße durchschnitten wurde, an der alle wichtigen Gebäude lagen: die Kirche, das Haus der Ortsvorsteherin, die seit fünfundzwanzig Jahren immer wieder gewählt wurde, ein Gasthof, der nur freitag- und samstagabends geöffnet hatte, das Dorfgemeinschaftshaus und ein sehr kleiner Laden, in dem lange Zeit ein Ikonenmaler gelebt hatte, der aber kürzlich verstorben war.
Andere Läden, Boutiquen, Geschäfte, Shops gab es nicht, geschweige denn einen Supermarkt. Zweimal in der Woche kam ein Bäckerwagen vorbei und einmal in der Woche das Rewe-Mobil, ein Mini-Rewe auf Rädern, aber ausreichend für die täglichen Bedürfnisse, wenn man nicht gerade frische Austern oder einen original Reblochon erstehen wollte. Obst, Gemüse, frische Eier bezog man von den Bauernhöfen, von denen es noch etliche im Dorf gab. Alles andere fand sich wohlfeil im Internet.
Das Dorf lag im Tal, Maike wohnte auf halber Höhe am Berg, ein paar hundert Meter weiter begann der Wald. Am Waldrand lagen noch zwei Ferienhäuser, die ab und an von Holländern bewohnt waren. Sie waren meist vermietet, wenn es im nächstgelegenen größeren Ort, der für seine mondänen Ski-Events bekannt war, keine freien Hotelzimmer mehr gab oder wenn ein Gast weniger den Trubel rund um die Uhr und mehr die Ruhe bevorzugte.
Es war der erste etwas frische Herbsttag in diesem Jahr. Während Maike das Feuer im Ofen anzündete, war Fridolin bereits unterwegs. Sein erster Gang führte ihn zum nebenan gelegenen Bauernhof, wo seine beste Freundin Frida wohnte. So unterschiedlich sie waren - vom Namen her paßten sie bestens zusammen. Er fand die Kuh in ihrem Stall und in heller Aufregung, was sich darin äußerte, dass sie doppelt so schnell wiederkäute wie sonst. Schwindelerregend schnell, fand Fridolin und schloß kurz die Augen. Dann kuschelte er sich gemütlich ins Stroh und fragte:
- Wasn los?
Kurz unterbrach Frida ihre Kauerei und nuschelte:
- Wir ham Neuzugänge. Ein Mann, ein Frau, ein Kind, ein Esel.
- Wie - ein Esel? wunderte sich der Kater. Ist der etwa mit dem Bus gekommen?
- Nee, 'türlich nich. Frau und Kind aufm Esel, der Mann mitm Rucksack aufm Rücken nebenher. Hat der Bauer zur Käthe gesacht.
- Und wo sindse jetz?
- Weißnich.
Beide schwiegen eine Weile.
Dann fing der Kater wieder an.
- Wo die wohl wohnen werden? Bei dir hier im Stall vielleicht? Dann könnt ihr Heilige Familie spielen.
- Versteh ich nich, grummelte Frida, die sehr wohl verstand, aber überzeugte Atheistin war seit dem Tag, als sie von der allen Kühen drohenden Schlachtung erfahren hatte. Ebenfalls seit diesem Tag lebte sie in ständiger Furcht, der jeweils neu anbrechende Morgen könnte ihr letzter sein. Das Leben war schon ein rechter Kuhfladen.
Die Tür wurde aufgeschlossen, etwas Tageslicht fiel durch den Türspalt in die Stube, die sich direkt dahinter befand.Wider Erwarten roch es nicht muffig. Ein schwacher Weihrauchduft lag in der Luft.
- Das muß noch von meinem Vater stammen, der mit seinen Ikonen, das war auch son Hobby, sagte Michael, löste den Rucksack von seinem Rücken und stellte ihn neben einen Stuhl. Angelika ließ sich auf den anderen fallen, das Kind noch im Arm, das nun erwachte und anfing zu weinen.
- Lisa, schsch, weine nicht, du bist doch ein großes Mädchen. Wir sind endlich da. Angekommen. Zu Hause. Na ja, hoffentlich.
- Ich geh mal den Esel wegbringen, die Ortsvorsteherin hat gesagt, bei einem Bauern weiter oben Richtung Wald gäbe es eine Möglichkeit.
- Okay, und ich guck mal, was an Ausstattung hier noch vorhanden ist. Hoffentlich kommt unser Möbelwagen bald.
- Na, heute nicht mehr. die haben angerufen, die haben sich total verfahren, dieses Nest hier ist in keinem Navi aufzufinden. Morgen früh, haben sie gesagt.
Michael ging nach draußen und nahm die Zügel des Esels in die Hand.
- So, nu komm mit, Langohr. Mal sehen, wo du heute nacht schläfst. Wie hat mein Vater dich denn genannt? Wie? Ich höre nichts. Wir werden dir einen Namen geben müssen. Und du, Kater, wie heißt du?
Fridolin, der gerade des Weges kam, machte sich nicht die Mühe, zu antworten. Dieser Eselsmann konnte sicher kein Wort Katzensprache.
- Du heißt Fridolin, stimmts?
Der Kater war baff. Wie konnte der Mann das wissen?
- Ja, da bist du baff, Kater. Ich kann sehen, was du denkst, Deine Sprache kann ich nicht, das stimmt, Aber ich verstehe dich ganz gut.
Fridolin machte, dass er wegkam.
Das mußte er erst einmal verdauen.
II.
Drei Monate später.
- Michael kommt doch sicher auch noch? fragte Maike, während sie fünf Teller auf dem Tisch abstellte. Dann legte sie das Besteck und die Servietten - Stoffservietten, es war schließlich Heiligabend - daneben und begann einzudecken.
- Ja sicher, er will nur noch ein Bild fertigmachen, antwortete Angelika. Du weißt ja, die Malerei ist das Einzige, das ihn so gefangen nimmt, dass er die Gedanken der anderen nicht wahrnehmen muß. Schwer für ihn, sich von dieser Auszeit zu trennen. Sie bedeutet Freiheit für ihn.
- Witzig, dass du sagst, er ist gefangen und das macht ihn frei, aber das ist wohl eine Sache des Standpunkts. Wie auch immer - ihr seid hoffentlich nicht über Nacht zu Vegetariern geworden? Ludwig kommt nachher rüber, von dem hab ich die Gans. Der ist auch Heiligabend alleine, seine Kinder wohnen in Neuseeland, die haben schon heute vormittag geskypt, und so habe ich ihn eingeladen.
Die Mikrowelle klingelt, und Angelika nimmt die Tasse mit dem heißen Kakao heraus und stellt sie vor Lisa hin.
- Gib acht, mein Schatz, der Kakao ist heiß.
Lisa antwortet nicht. Sie pustet vorsichtig auf den Kakao, während ihre Augen weiter am Display des Smartphones kleben, das vor ihr auf dem Esszimmertisch liegt. Kleine grüne Kobolde versuchen einer rosa Schlange zu entkommen. Nicht allen gelingt es. Einige werden aus Versehen erschossen, und zwar von Lisa, deren flinke Fingerchen schnell über das Display gleiten.
- Sie redet immer weniger, stimmts, Angelika?
- Ja, du hast recht. Keine Kinder hier im Dorf, mit denen sie spielen könnte. Und wenn sie mit ihrem Papa redet, da braucht sie keine Worte. Die beiden schauen sich an und alles ist klar zwischen ihnen. Und ich muß mir zusammenreimen, was läuft.
- Dann mußt eben du ganz viel mit ihr reden, ihr was erzählen, ihr was vorlesen.
- Mach ich ja, aber das wird ihr schnell langweilig. Sie ist oft mit ihrem Köpfchen ganz woanders. Manchmal glaube ich, dass sie die Gedanken von Leuten hört, die nicht im selben Raum sind. Und das kann nicht mal ihr Vater.
- Papa kommt, mit Ludwig, sagt Lisa.
Es klingelt, da ist Michael, Ludwig ist bei ihm. Er hält einen Christstollen in Händen.
Michael und seine Tochter lächeln sich an, er gibt Angelika einen Kuß, und Ludwig überreicht Maike den Kuchen.
- Für dich. Selbst gebacken. Wußtest du, dass ich mal Bäcker war?
- Er schwindelt dich an, sagt Michael, Er hat, als er im Knast war, eine Weile kleine Brötchen gebacken. Aber seine Gefühle für dich sind echt.
Plötzlich ist es still im Eßzimmer.
- Wie war das? fragt Maike in die Stille hinein.
- Meinst du das mit dem Knast oder das mit den Gefühlen, fragt Ludwig seinerseits.
Und Maike, ungeduldig:
- Das mit dem Knast, das weiß ich. Weiß doch jeder hier im Dorf. Nein, ich meine das andere -
- Maike, ich liebe dich, platzt Ludwig mit der Tür ins kalte Wasser. Wenn Michael hier den Rosa von Praunheim gibt und mich outet - Maike, willst du mich heiraten?
- Nur, wenn ich in Weiß heiraten darf. Ich wollte schon immer eine Wurst in Weiß sein. Tüll und Tränen.
Tüll ist noch nicht in Sicht, aber Tränen, natürlich Tränen der Freude, fließen reichlich, und der gehaltvolle Duft des Gänsebratens durchzieht den Raum.
- Was für ein Glück, Papa, dass die beiden sich nun endlich gefunden haben. Du glaubst nicht, was da immer los war, wenn sie zusammen in einem Raum waren. Sie schmachtet ihn an, er gefühlsduselt zurück, und keiner sagt jemals ein klares Wort. Und dann noch diese abstrusen Wünsche - Ich möchte an deinen Zehen lutschen, oh meine Göttin, und dann sie - sie wollte auch an was lutschen - was war das noch gleich -
- Kind, ich habe dir gesagt, du sollst nicht pausenlos die Gedanken der Erwachsenen abhören, besonders, wenn du merkst, dass sie verliebt sind. Das wirft nur ne Menge Fragen auf, und für manche Antworten bist du noch zu klein mit deinen sechs Jahren.
- Ja, Papa, ich weiß das ja, und ich versuche das ja auch, aber manchmal denken sie so furchtbar laut -
Fridolin, der auf seinem Kissen nahe beim Ofen liegt, räkelt sich und grinst, wie nur Kater grinsen können. Natürlich kriegt er jede Schwingung mit und macht dazu sein Pokerface. Wenn ich das morgen Frida erzähle ...
- So, jetzt aber zu Tisch, sagt Maike resolut und löst sich aus Ludwigs Armen. Ich wette, ihr habt alle einen Riesenhunger.
Und der Esel?
Cadillacvogel
Helga Rougui
Ernst
Worauf lange warten? sagte sich Ernst Bauer und näherte sich dem Käfig.
Der Vogel, der darin saß, sah aus wie ein postmodernes Fabeltier - chromglänzender Schnabel, pink metallic Flügel, auf dem spitzen Schädel eine schwarze Tolle, der der Wärter eine Dauerwelle verpaßt hatte. Zwischen den Locken ragten drei Antennen heraus, um - so die allgemeine Meinung - Signale aus dem Äther einzufangen. Der Aberglaube hielt sich hartnäckig, daß diese Tiere dazu da waren, etwaige Botschaften von möglicherweise existierenden Außerirdischen entgegenzunehmen. Wie sie diese dann der Menschheit kommunizieren würden, war noch nicht ersichtlich. Die meisten freuten sich, daß die Vögel stumm blieben, weil das für sie ein Zeichen war, daß keine fremden Existenzen im Anmarsch waren. So diente etwas, das nicht eintrat bzw nie eintreten konnte, dazu, etwas zu beweisen, das nicht eintrat und wohl nie eintreten würde. Ernst dachte, dass es kein Wunder war, dass die Menschheit sozusagen auf dem letzten Loch pfiff.
Er hatte recherchiert, dass der Schnabel dieser Cadillacvögel, wie sie wegen ihres Aussehens genannt wurden, gefährliche Hiebe verteilen konnte, und stimmte deshalb einen beruhigenden Singsang an, während er sich immer weiter den Gitterstäben näherte. Ein blankes Auge beobachtete ihn dabei, bei jedem Schritt, den er tat, zuckte der Kopf des Vogels leicht hin und her, aber ansonsten blieb er friedlich. Schließlich war Ernst nahe genug, um ein Wiener Würstchen zwischen den Gitterstäben hindurch zu schieben. Er wußte, dass der Cadillacvogel die österreichische Küche liebte, und er war natürlich nicht so blöd gewesen, Geflügelwürstchen einzukaufen. Ob die Vögel auch ihre eigene Gattung fraßen, war ungewiß. Das Schweinewürstchen wurde jedenfalls sofort verschlungen.
Und nun trat das ein, wozu das Verspeisen des Würstchens hatte dienen sollen. Nach jeder Nahrungsaufnahme, wenn man ihn denn dazu bewegen konnte, fiel das Tier in einen mehrstündigen, fast todesähnlichen Tiefschlaf, immer von der Hoffnung getrieben, man möge es tatsächlich für tot halten und fachgerecht entsorgen. Auf der Müllkippe angekommen, würde es sich dann wie Phönix aus der Asche erheben und in die Freiheit entfleuchen können.
Phönix aus der Asche, Cadillacvogel aus dem Müll, das hatte was, grinste Ernst. Genau sein Niveau.
Die Rechnung des Vogels ging aber, wie auch in diesem Fall, leider fast nie auf. Denn ziemlich schnell waren die Wärter darauf gekommen, dass es sich um eine Taktik zur Selbsterhaltung handelte, und hatten einfach gewartet, bis die Simulanten wieder aufwachten. Oder sie hatten in der Zeit, wenn sie Ruhe gaben, den Käfig gesäubert oder den Umzug in einen neuen Käfig durchgeführt. Oder man konnte, wie Ernst jetzt, die Schlafpause nutzen, um den Vogel zu klauen.
Was wollte Ernst mit diesem Vogel? Ihn als Haustier halten? Verkaufen? Schlachten und essen? Ihm auf seiner Flöte etwas vorspielen?
Er wußte es selbst noch nicht.
Aber als er an diesem Morgen im Badezimmer in den Spiegel geschaut und sein diffus melancholisches Gesicht erblickt hatte, mußte er an all die Helden denken, die Großes für die Menschheit geleistet oder zumindest etwas Spektakuläres auf die Beine gestellt hatten, so dass ihre Taten in aller Munde waren. Und was hatte er bisher Großartiges vollbracht? Mit seiner Flöte als einer unter vielen im Orchester gesessen und darauf geachtet, seinen Einsatz nicht zu verpassen. Das war so stinknormal, so banal, dass er fast angefangen hätte zu weinen. Einer unter vielen sein, das konnte fast jeder, und es gab immer nur einen, der die erste Geige spielte, ganz zu schweigen vom Dirigenten, ohne den gar nichts lief. Ernst sehnte sich nach Aufmerksamkeit, nach Anerkennung - er wollte herausragen aus der Masse.
Also hatte er beschlossen, einen der dreizehnhundert Cadillacvögel, die es auf der Welt gab, zu entwenden. Das würde doch sicher jemandem auffallen und ihn berühmt machen. Und da es sich um den dreizehnten der dreizehnhundert noch existierenden Exemplare handelte, dem man wegen der Zahl 13 noch ganz besondere Kräfte nachsagte, konnte er sicher sein, weltweit auf den Titelseiten der morgigen Zeitungen zu erscheinen.
Natürlich nur, wenn das Unternehmen von Erfolg gekrönt wäre.
Ernst packte den mitgebrachten kleinen Käfig aus, in den der etwa hühnergroße Vogel einigermaßen hineinpaßte. Dann nahm er den Bolzenschneider, knipste einige Drähte durch und bog sie auseinander. Er langte mit der Hand hinein, ergriff vorsichtig das schlafende Federvieh und bettete ihn auf die Moosschicht auf dem Boden seines kleinen Käfigs. Schnell schloss er die Tür, als ob seine Beute noch im Schlaf davonfliegen könnte.
Nebenan, im Kabinett des Nachtwärters, gab es ein Geräusch, so als ob etwas zu Boden fiele.
Ernst schnappte sich den Käfig und sah zu, dass er sich vom Acker machte.
Fanny
Eigentlich hätte Fanny ihr Vorhaben aufgeben müssen. Als sie gegen 23 Uhr auf menschenleerer Straße an der roten Ampel stoppte, sah sie eine schwarze Katze, die in aller Seeleruhe über den Zebrastreifen lief und zu allem Überfluß danach noch unter einer Leiter hindurchschlüpfte, die an einer Hauswand lehnte. Fanny seufzte. Fehlte nur noch, dass - Moment! Sie klappte die Sonnenblende hinunter und, tatsächlich, der Spiegel, der an der Innenseite eingearbeitet war, war zerbrochen. Wann und wie war das denn passiert?
Fanny wünschte, sie hätte etwas Salz, das sie sich über die Schulter werfen könnte. Sie rief sich zur Ordnung. Das war doch alles Quatsch, dieser ganze Aberglaube. Leider beeinflusste er beträchtlich ihre allgemeine mentale Verfassung, die sowieso nicht die beste war. Nächste Woche würde sie vierzig Jahre alt, und dieses Wort "alt" stand wie eine Flammenschrift in ihrem Hirn. Sie hatte das Gefühl, sie müßte sich diese Flamme aus dem Körper tanzen - solange sie das noch konnte. Bald würde die Arthrose kommen und sie zur Unbeweglichkeit verdammen, sie würde nur noch laufen können, wenn man die Schmerzen mindestens mit Äther betäubte oder sonst so an Schmerzmitteln auf der Speisekarte stand.
Heute beim Friseur hatte sie, während der chromblitzende Fön und eine Rundbürste ihre langen frisch dauergewellten Haare in gefällige Form brachten, im Spiegel eine noch junge, recht passabel aussehende Frau erblickt, die man sogar als hübsch hätte bezeichnen können, wäre ihr Gesichtsausdruck nicht so griesgrämig gewesen. Oder sollte sie besser sagen - melancholisch, das klang nicht so fürchterlich - alt.
Also hatte sie beschlossen, wieder mehr an die Luft zu gehen. Obwohl ein Club sicher nicht der Ort war, an den man primär dachte, wenn von Luft die Rede war. In letzter Zeit war ihr ihre Wohnung wie ein Käfig vorgekommen, sie saß Abend für Abend vor der Glotze und guckte wahllos alles, was kam: "Bauer sucht Frau", Hot oder Schrott", "Die Auswanderer", "Das perfekte Dinner", "Daniela Katzenberger kann nicht kochen" und was noch für Blödsinn. Das reichte jetzt. Sie würde ihrem Mißmut schon die Flötentöne beibringen. Sie liebte Flötenmusik; immer, wenn irgendwo eine Symphonie aufgeführt wurde, in der Flöten vorkamen, war sie dabei. Und die Flötenspieler selbst waren meist so filigran wie ihre Flöten. Sie liebte auch sie, ihre hin- und herschwankenden Oberkörper, die Bewegungen, die sie mit ihren Armen vollführten, wenn sie ihren Instrumenten weiche, helle Töne entlockten.
Aber jetzt hieße es erst mal - Tech-no, Tech-no, Tech-no.
Felix
Freitag der dreizehnte. Mein Tag. Mein Feiertag. Ich heiße natürlich Felix. Ich verkörpere das Glück der absoluten Glückszahl. Es gibt zwar sieben Todsünden, deren akribische Ausübung auch schon recht glücklich macht. Sechs weitere - moderneren Charakters wie Internetsucht, Avocado essen, übertrieben Sport treiben etc etc - kommen hinzu, und schon hat man dreizehn und damit mich, den absoluten Glücksvogel. Wer mich hat, braucht nichts anderes mehr.
Aber man muß aufpassen, dass man mich richtig behandelt. Das Schweinewürstchen war schon mal ein guter Anfang. Ich habe danach gut geschlafen. Nun bin ich wach.
In der Cadillacstation bin ich nicht mehr. Aber noch in einem Käfig, aha. Also hat es nicht geklappt mit Entsorgung meiner angeblichen Leiche und fröhlichem Erwachen auf der Müllkippe.
Ich schaue mich um. Offensichtlich hat man mich auf einer Kommode abgestellt. Auf dem Boden liegen überall Kleidungsstücke. Entweder ist der Bewohner sehr unordentlich - oder er wollte die Klamotten schnell loswerden und hat sie in der Gegend herumgeschmissen. Halt, da ist ein Bett. Zwei Köpfe auf den Kissen. Lange, blonde Locken, kurze schwarze Haare. Ein Mann, eine Frau. Obwohl - heute gibt es ja noch mehr Möglichkeiten. Vielleicht sind beide trans und sowohl lesbisch als auch schwul. Aber geht mich das was an? Nein. Das geht überhaupt niemanden was an. Was diese Menschen immer gegenseitig in ihren Privatsphären herumstochern müssen oder sie vor aller Augen ausbreiten. Warum kann nicht jeder diskret das Leben leben, das er möchte, ohne immer ein Riesengeschrei darum zu machen?
Aber was mich viel mehr interessiert - was hat der, der mich gestohlen hat, mit mir vor? Er wird mich ja wohl nicht fressen wollen. Man sagt, unsereins sei kostbar. Das Verspeisen haben schon andere versucht und sind daran gescheitert. Ich bleibe nämlich jedem im Halse stecken, weil ich mich partout in allem querstelle. Mein großes Vorbild ist Groucho Marx. Whatever it is, I'm against it. In mir steckt ein Omniakriterier vom Planeten Omnia, der sich bisher noch im Äther versteckt. Es gibt auch einen Marsianer, der sich nur von Marsriegeln ernährt. Bis die Wärter das raus hatten, war er halb verhungert. Ich für mein Teil esse eigentlich alles. Außer Katzen. Ich weiß nicht, was diese Melmacker an denen finden.
Also in jedem von uns Vögeln steckt einer, den die Erdlinge hier als Außerirdischen bezeichnen. Ich bin in Erdenzeit dreitausend Jahre alt, und das bedeutet mehr Immobilität im Denken, als siebzehn Arthosen anrichten können. Wie die Menschheit auf die Idee kommt, dass wir Glück bringen - ich weiß es nicht. Ach doch, ich erinnere mich. Wir selbst haben dieses Märchen ausgestreut, damit niemand uns frißt. Wir sind, das bringt das Alter so mit sich, eifrige, teils vergeßliche, redundante Plappermäuler ohne Punkt und Komma, und manchmal verhaspeln wir uns in unseren Widersprüchen. Wie diese Sache
mit dem Glück. Manchmal weiß ich selbst nicht, ob ich Glück oder Unglück bringe.
Am besten, man geht nach den Ergebnissen. Wenn ich mir die beiden, die da selig lächelnd im Bett liegen, betrachte, scheine ich in diesem Fall Glück gebracht zu haben.
Mal gucken, was passiert, wenn die beiden erwachen.
Der schwarzhaarige Kopf gähnt.
Ich glaube, es geht los.
KussKuss
Helga Rougui
Helga Rougui
Er kam, sah und siegte. Nein, nicht Cäsar, sondern mein zukünftiger Ehemann. Dass er der Eine war, wußte ich, als er es noch nicht ahnte. Als ich zum ersten Mal in seine Augen blickte. Waldseen aus Tannenhonig mit goldenen Sonnenpünktchen. Ich verlor mich in ihnen, wir standen unbeweglich, gebadet in die flimmernde Luft des Bazars, umgeben von Düften des Orients, Gewürze, Früchte, Pfefferminz, Hitze, der Staub uralter Steine. Und ich wußte, dies wäre mein Land, seine Heimat würde die meine sein, und immer, wenn wir später zusammen durch die engen Gassen der Altstadt schlenderten, erinnerte ich mich an dieses erste Mal.
Auch wenn wir nicht in seinem, sondern in meinem Land lebten, war die Ferne präsent in unserem täglichen Leben. Er hatte während seines Studiums keine Lust verspürt, die nachlässig zubereiteten und wenig schmackhaften Gerichte aus der Mensa der Universität zu essen, er zog es vor, für sich selbst zu kochen, wie es ihn seine Mutter gelehrt hatte. Seine Tagines und sein Couscous schmeckten besser als die, die in den hiesigen Restaurants als seine Landesküche serviert wurden. Und wenn er sich entschloß, zu kochen, war das immer das Highlight des Wochenendes.
Das Abenteuer begann bereits mit der Beschaffung der Zutaten. Eine Reihe von Einzelhändlern und kleinen Supermärkten boten authentische und auch frische Ware. Und wenn er nach Hause kam, in jeder Hand drei bis vier grüne Plastiktüten, wußte ich, es würde ein Festmahl geben.
Ich setzte mich mit einem Glas Rosé an den Küchentisch und harrte der Taten, die da kommen würden. Die Tüten wurden entleert – auf dem Tisch türmten sich leuchtende Tomaten, Zwiebeln, knackige Karotten, gelbe reife Quitten.
Eine Lammkeule, in Scheiben portioniert, fand Platz auf einem Schneidebrett; fast liebevoll zerteilte er die Scheiben weiter in handliche Würfel, nicht zu groß, nicht zu klein, die sich alsbald im heißen zischenden Öl der unteren Couscoussiere wiederfanden. Zerkleinerte Zwiebeln kamen dazu, und bevor die Tomaten das Ragout mit der notwendigen Flüssigkeit versorgten, wanderten die Gewürze in den Topf, wohldosiert, nicht zu viel, nicht zu wenig, Pfeffer und Salz, Kreuzkümmel und Kardamom, Ingwer und Kurkuma, Paprika und Zimt, dazu frischer Koriander fein gewiegt.
Nach einer Viertelstunde kamen die Möhren - gewaschen, halbiert, entkernt - hinein, und dann durfte die Speise vor sich hin köcheln, eine ganze Weile lang, und nach und nach entwickelten sich die herrlichsten Aromen, und während ich mir meinen Wein schmecken ließ, begann mein Lieblingskoch den Couscous zuzubereiten, natürlich nicht als krümeligen Instant-Brei, sondern richtig, nach Hausfrauenart. Die große Servierplatte wurde aufgestellt, darauf verteilt der trockene Couscous, der sodann mit lauwarmem Wasser angefeuchtet und hin und her bewegt wurde, dann kam er in den oberen Topf der Couscoussiere, der auf den unteren Teil gesetzt wurde, und nun konnten die aufsteigenden Dämpfe des Ragouts den Garungsprozeß einleiten.
Noch dreimal während der Kochzeit wurde der Couscous auf den großen Servierteller geleert, und heiß und dampfend, wie er da lag, besprenkelte mein Mann ihn mit lauwarmem Wasser, um ihn etwas abzukühlen. Dann faßte er hinein und rieb ihn zwischen den Handflächen, und auf die Art wurde er körnig und blieb feucht und saftig dabei.
Diese Hände, die den Couscous lockerten, zerrieben, herabrieseln ließen – direkter sinnlicher Kontakt zum Getreide, zum LebensMittel …
Die Quitten, geputzt, gedünstet und karamelisiert, rundeten das Ragout mit Süße ab, und zwar erst ganz zum Schluß, zusammen mit einer letzten zerkleinerten rohen Tomate – pour le bon goût.
Nun die Servierplatte - der fertige Couscous, zu einem kleinen Hügel gehäuft, und das Ragout, Fleisch, butterzart, Gemüse und kräftige Soße von oben gegossen und in kleinen Bächen die Seiten des Getreideberges hinunterlaufend … ein Gedicht marokkanischer Hausmannskost.
Der ungeübte Laie braucht zum Essen nur einen Suppenlöffel – der geübte Profi formt aus dem Couscous kleine Kugeln und taucht sie in die Soße und verzehrt diese abwechselnd mit den mundgerechten Fleisch- und Gemüsestücken.
Mit der rechten Hand, natürlich.
Muh
Helga Rougui
Helga Rougui
Aloisius betätigte den Türklopfer am Portal der Gründerzeitvilla und seufzte. Wieder einmal war die Zeit gekommen für den wöchentlichen Besuch bei seiner Tante Klara, und da sie seine einzige Erbtante war und angesichts seiner ewig leeren Geldbörse durfte er diese Besuche nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Tante Klara, sehr rüstig für ihre 94 Jahre, öffnete selbst die Tür - das Mädchen hatte wohl Ausgang -, und er folgte ihr in den Salon, altdeutsch eingerichtet, klobige Polstersessel, und auch der Röhrende Hirsch über dem Sofa fehlte nicht.
In einer Vitrine waren kleine Figuren ausgestellt - aus Porzellan, Glas, Terrakotta, Silber, Lapislazuli - lauter Kühe in verschiedenen Haltungen und Stellungen aus verschiedenen Jahrhunderten. Das älteste Objekt war eine kleine blaubemalte Kuh aus Ton, Oberägypten, 3000 v.Chr., wahnsinnig wertvoll.
Tante Klara war eine Sammlerin.
Würde ihr das Fehlen einer kleinen blauen Kuh wirklich auffallen?
Aloisius hatte eigentlich vor, seine Erbtante zu beerben, nicht zu beklauen, aber die Pokerrunde der vorigen Nacht hatte ihm das letzte Hemd vom Leibe geklaubt - was nicht wörtlich zu nehmen war, denn sein Kleiderschrank war nach wie vor wohlgefüllt mit Smokinghemden und feinen Anzügen. Aloisius wußte, in der Gesellschaft, in der er sich bewegte, kam es nicht auf das Innere an, der äußere Eindruck mußte gewahrt werden und damit der Schein von Wohlhabenheit und Wichtigkeit.
Es traf sich gut, daß er gestern im Lauf des Abends einen sehr distinguierten Herrn kennengelernt hatte, einen Sammler ägyptischer Altertümer, und er hatte wie zufällig eine Bemerkung in das Gespräch einfließen lassen, die sich auf die Exponate seiner Erbtante - "ebenfalls eine leidenschaftliche Sammlerin, wissen Sie" - bezog, und besonders die kleine blaue Kuh schien den Herrn zu interessieren, und wenn die Echtheit garantiert sei, würde er eine nicht unbeträchtliche Summe ...
Aloisius hatte genug gehört und dem wöchentlichen Besuch bei Tante Klara diesmal nicht nur ergeben, sondern auch erwartungsvoll entgegengesehen. Einen genauen Plan hatte er bei all seiner Blasiertheit nicht, aber als nun die Tante Richtung Küche entschwand, um den Tee zu bereiten, stand er auf und näherte sich der Vitrine mit der bewußten Kuh.
Die Vitrine war unverschlossen, wie er mit einem Blick feststellte, und vorsichtig öffnete er sie und nahm die Kuhstatuette behutsam in die Hand.
***
Tante Klara war nicht erst seit gestern auf der Welt. Sie kannte ihren Pappenheimer, den ewig in Geldnöten steckenden Neffen, und sie wußte, daß seine Anhänglichkeit zum großen Teil aus finanziellen Interessen gespeist war. Seis drum, dachte sie, besser ein Besuch pro Woche als keiner, und beerben wird er mich ja sowieso. Allerdings gefielen ihr die begehrlichen Blicke nicht, die er neuerdings in Richtung der Vitrine mit ihren geliebten Antiquitäten warf, und darum hatte sie einen Plan gefaßt und zu dessen Verwirklichung eine Online-Bestellung in Auftrag gegeben - die Tante war recht fit, was die moderne Technik anging, getreu ihrem Motto "Ich bin zwar alt, aber weder doof noch tot."
Sie hatte ein Sonderangebot bei Vistaprint wahrgenommen, und gestern morgen war eine Rolle mit von ihr selbst designten winzigen Aufklebern angekommen, die Ovale waren fein und stilvoll mit Goldrand eingefaßt und nur mit drei kleinen Worten, ebenfalls in Goldprint, bedruckt.
Den gesamten gestrigen Nachmittag hatte sie damit zugebracht, unter jedes ihrer Exponate eines dieser Mini-Etiketten zu kleben, mit jeweils einem Tropfen Sekundenkleber für die Ewigkeit.
Diese Aktion hatte sie immens beruhigt, auch hinsichtlich der gierigen Blicke von Aloisius, an dessen wöchentlichen Besuchen sie sich noch viele Jahre zu erfreuen gedachte.
***
Seferit stand der Schweiß auf der Stirn. In der stickigen Töpferwerkstatt herrschte die Hitze der beginnenden Schemu. Der Töpferlehrling grub seine Hände tief in den weichen Nilton. Er nahm eine Portion und knetete sie in die grobe Form einer Schale, begann ihren Boden zu glätten und außen einen kleinen Sockel zu formen. Dann formte er längere runde Streifen und baute sie auf dem Schalenrand auf, so daß nach und nach ein Trinkgefäß entstand. Er feuchtete seine Hände an und glättete die Innenseite, dann stellte er es zur Seite zu den anderen und nahm die nächste Portion Lehmerde - gleiche Handgriffe, gleiches Ergebnis.
Seferit gähnte. Wer hatte ihn geheißen, diesen todlangweiligen, schmutzigklebrigen Job zu übernehmen?
Ach ja, erinnerte er sich, die Armut und sein Vater, da hatte er nicht groß die Wahl gehabt.
So saß er Tag um Tag vor seiner Töpferbank und formte Gefäße aller Art.
Heute mittag war der Besitzer der Werkstatt zu einem neuen Kunden unterwegs, um einen lukrativen Auftrag an Land zu ziehen, und so gehörte die Werkstatt für eine knappe Stunde ihm allein.
Gerade genug Zeit, um ein lange geplantes Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Er befühlte den kleinen Knubbel, den er in einer Ecke seines kuhledernen Lendenschurzes versteckt hatte, einen glitzernden, etwa erbsengroßen durchsichtigen Stein, der einem der Schreiber, die die Felder katalogisierten, eines Tages auf der Dorfstraße aus der Tasche gefallen war. Seferit war zufällig dicht hinter ihm gegangen, hatte den Stein fallen sehen, geistesgegenwärtig die Hand ausgestreckt und ihn aufgefangen. Schnell hatte er ihn in seinem Lendenschurz verborgen, niemand hatte das gesehen, so schnell war alles gegangen.
Ab und an, wenn der volle Mond des Nachts am Himmel stand, hatte er den Stein hervorgeholt und davon geträumt, was er alles mit seinem Erlös anstellen könnte, könnte er ihn verkaufen. Aber das war unmöglich. Wie hätte er erklären sollen, wie er in den Besitz eines solchen Kleinods gekommen war? Er hätte als Dieb dagestanden - der er strenggenommen war - und so bereitete ihm der Stein durch seine Schönheit Freude und sein Besitz war ihm eine Last.
Seferit nahm ein Stückchen Ton, formte es zu einem Figürchen, vier Beine, zwei Hörner, eine Kuh. Ein Stier, verbesserte er sich, der Apis-Stier, da muß noch die Sonnenscheibe zwischen die Hörner. Aber bevor er sich daranmachte, sie zu formen, nahm er den Glitzerstein und drückte ihn tief in den Bauch des Tieres und verschloß die Eindrückstelle sorgfältig mit einem Klümpchen frischen Tons. Er drehte das Figürchen in seiner Hand - perfekt. Nun noch die Scheibe - aber da hörte er ein Geräusch am Eingangstor. Der Meister kam zurück, früher als erwartet, und Seferit versteckte die kleine Kuh - jetzt doch kein Stier, grinste er innerlich -unter einem Lappen, um sie abends mit nach Hause zu nehmen und in einer Ecke des flachen Dachs in der Sonne zu trocknen. Ein bißchen Ägyptisch Blau aufgetragen, und nichts erinnerte mehr an den Glitzerstein.
***
Und so trat die Statuette ihre wechselvolle Reise durch drei Jahrtausende Geschichte an, um nach manch abenteuerlichen Zufällen und Vorkommnissen in der Vitrine der Gräfin Klara von O. in München zu landen.
***
Aloisius nahm die Kuhstatuette behutsam in die Hand. Glatt und seidig fühlte sich der bemalte Ton an. Sie war schwerer als erwartet, schien recht massiv. Doch was war das? Etwas klebte unter ihrem Bauch, ein Papier? Aloisius drehte das Figürchen um und sah einen kleinen goldgeränderten Aufkleber, las die drei Worte, die darauf standen, und hatte schlagartig jedes Interesse verloren.
Enttäuscht und beinahe grob stellte er die Kuh zurück zu den anderen. Mein Gott, wer hätte das gedacht - "Made in China"! - und, so dachte er sorgenvoll, hoffentlich war das nicht ein böses Omen, was das gesamte Vermögen seiner Erbtante anging ....
Reisen, hautnah
Helga Rougui
Zum vierten Mal ging der Mann mit dem Teetablett an den Wagenkolonnen vorbei, ich winkte ihm und nahm einen Thé à la Menthe - immerhin verstand er Französisch. Dirham – wieviel Dirham? - ich verstand sein Arabisch nicht und reichte ihm auf gut Glück einen Geldschein, und er gab mir einige Münzen zurück.
Die Wagentür an der Fahrerseite wurde abrupt geöffnet. Mein Mann ließ sich in den Sitz fallen und starrte dem Beamten im schlechtsitzenden rostroten Anzug nach, der sich gerade mit unseren Pässen Richtung Infohäuschen bewegte.
- So, jetzt hab ich dem zum hundertsten Mal gesagt, daß wir nichts zu verzollen haben, und wir zahlen nichts, gar nichts, und wenn wir bis morgen früh um vier hier warten. Ende. Aus. Mickimaus.
In dem Moment bewegte sich die Schlange neben uns, die Autos rückten zwei bis drei Meter vor, und wir standen.
Sonne. Glühende Hitze.
Es war zu heiß zum Antworten.
Zweieinhalb Stunden später hatten die Beamten ein Einsehen, oder es war ein Wunder geschehen, oder ihnen dämmerte langsam, daß mein Mann der in etwa sturköpfigste Araber zwischen Kairo und Kapstadt war – sturköpfiger noch als der gemeine marokkanische Subalterne an sich, der denjenigen nicht weiterfahren ließ, der ihm nicht einen bestimmten Obolus entrichtet hatte – eine Bearbeitungsgebühr, sozusagen.
Wir setzten uns in Bewegung. Die kostbare Plakette mit der Einreiseregistrierungsnummer hatte ich sofort nach Erhalt hinter der Windschutzscheibe mit solidem, in Deutschland extra dafür gekauftem Klebstoff festgepappt – auch ich trug meinen Teil zum guten Gelingen dieser Reise bei.
Ich hatte meinen Koffer gepackt wie vor jedem Urlaub, mein Mann natürlich den seinen.
In Spanien besorgte ich uns mit dem Wörterbuch in der Hand Speis und Trank, und mein Mann fuhr. Ich las die Straßenkarten und sagte, wo es lang ging, und mein Mann fuhr.
Einmal, auf dem Autobahnring um Madrid, übernahm ich kurzfristig das Steuer, schwitzte Blut und Wasser, und an der nächsten einigermaßen vertretbaren Stelle an der Strecke tauschten wir die Plätze, und ich schlüpfte erleichtert in meinen Beifahrersitz wie in einen ausgetretenen, mir liebgewordenen Hausschuh.
Mein Mann fuhr durch ganz Belgien, durch ganz Frankreich, durch ganz Spanien bis zur Fähre, auf die Fähre hinauf und von der Fähre hinunter, auf den Boden seiner Heimat.
Nun war ich in der Fremde. Der Orient hatte mich schon von jeher fasziniert, Literatur und Film hatten bestimmte Vorstellungen erzeugt, und natürlich, denn auch das hatte ich mir angelesen, würde die Realität ganz anders sein. Aber wie?
Zu Hause hatte ich in zwei anstrengenden Sprachkursen die ersten Elemente meines zukünftig sicherlich perfekten Hocharabisch gelernt.
Um festzustellen, daß ich meine Sätzchen nicht anbringen konnte.
Ich war umgeben von Menschen, die sich über meinen Kopf hinweg in kehligen Lauten Botschaften zuriefen, in denen ich, wenn ich Glück hatte, hin und wieder ein Wort erkannte, und damit erahnte ich, in welche Richtung die Gespräche gingen. Und meine Familie sprach einen der nördlichen Berberdialekte und brach bei meinem ersten hocharabischen Satz "kaifa haluka?" in unterdrücktes Gelächter aus.
… … …
Jedes Jahr in den Ferien ging es nun nach Marokko, solange ich einen marokkanischen Ehemann hatte.
Nach dem Verlassen des Hafen- und Zollgebietes durchquerten wir Tanger, und jedesmal nach Verlassen der Stadt mußte ich dringend und erkor mir dafür ein Hotel am Wegesrand, leicht erkennbar an seiner auffälligen Tür in hellem Blau, und sie ließen mich die Toilette benutzen im ersten Jahr und in den folgenden Jahren auch, bis die Autobahn gebaut wurde und wir diese Strecke nicht mehr fuhren.
Dann kam in einsamster, wildzerklüfteter Berggegend das kleine Fernfahrercafé, in dem wir, völlig erschöpft von der Fahrt und am Ende unserer Kräfte, jedes Jahr einen heftigen Ehestreit vom Zaun brachen, der durch lauwarmen Pfefferminztee und noch lauwarmeres Wasser kaum abgewiegelt wurde, und jedes Jahr führte uns unsere Liebe zurück zum gegenseitigen Verständnis und zur Versöhnung, so daß wir bei unserer Familie, die uns sehnsüchtig erwartete, einträchtig und fröhlich erscheinen konnten.
Jahre hindurch reihte sich Erlebnis an Erlebnis, und nicht Prinzen und Dschinn und Wunderlampen prägten meine Vorstellung, sondern die erst fremden, dann mir immer vertrauter werdenden Menschen, mit denen ich zu tun hatte.
Mein Versuch, in der Mittagshitze im wie ausgestorben daliegenden Dorf herumzuwandern - ich quengelte so lange, bis mein Schwager mich begleitete, und lernte, man geht nicht spazieren in diesem Land und auf dem Dorf schon gar nicht.
Die touristischen Besichtigungen, mir zuliebe unternommen, bei denen mein Mann und sein Bruder im Café warteten, bis ich durch Volubilis geschlichen war, die schillernden Basare, die traditionelle Hochzeit des älteren Bruders, auf der eine einzige Meisterköchin die Verarbeitung von vierhundert frisch geschlachteten Hähnchen oben auf dem Dach des Hauses dirigierte, wonach sie zwei Tage und zwei Nächte schlief.
Die Bedürfnisse des jüngeren Bruders und seine Anstrengungen, aus diesem chancenlosen Land wegzukommen, die von meinem Mann unterstützt wurden, was bei mir blinde Eifersucht hervorrief, die langen Gespräche mit meinem älteren Schwager, der an seinen Rollstuhl gebunden immer Zeit für mich hatte und mit dem ich mein Französisch übte und über Gott und die Welt sprach, während mein Mann unterwegs war, um von einem weit entfernten Hof den besten Honig aller Zeiten zu holen.
Meine Schwiegermutter, die mich mit offenen Armen empfangen hatte, trotz des Altersunterschiedes zwischen ihrem Sohn und mir und trotz der Tatsache, daß ich Christin war - ihr Sohn hatte sich für mich entschieden und sie legte mich ihm ans Herz mit den Worten "Achte auf sie wie auf dein Augenlicht".
Der Cousin, der in einem Wadi ertrank, die Trauer der gesamten Sippe und die Sorge um die Familie, deren Ernährer er gewesen war, die Nichte, die von ihrem Mann geschlagen wurde und lange Jahre Zuflucht fand auf dem Hof, bis ihr Mann, durch das Gefängnis geläutert, Besserung gelobte und sie zu ihm zurückging und schwanger wurde.
Die Fahrten zum Strand und zum Meer, wo ich mit Frauen und Kindern badete und mein Mann und mein Schwager Fußball spielten, meine Haare von Sand und Salzwasser verklebt, die Hitze und die Gerüche und die eleganten Cafés in der Hauptstadt, die französische Buchhandlung mit der stets mißbilligend guckenden Buchhändlerin, die Melonenhändler unterwegs und ihre köstlichen sonnenreifen Früchte, die kleinen Restaurants am Rande der Landstraße mit auf Bestellung frisch gegrilltem Lamm.
Und dann, eines Tages, der Tod der Mutter, der sich ereignete, als wir im fernen Deutschland waren, und der alles veränderte und die Großfamilie auseinanderbrechen ließ trotz der Kinder, die inzwischen den kleinen Hof mehr und mehr bevölkerten.
Urlaub war mir in diesen Jahren nicht "leere" Zeit - Auszeit, Abschalten, Nichtstun – sondern ich erlebte Leben jeden Sommer, ich nahm an den Problemen, Nöten, Freuden, Sorgen und Festen derer teil, die meine Familie waren. Ich lernte, nicht der Mittelpunkt der Welt zu sein.
… … …
Aber ab und zu wagte sich meine europäische Existenz in die marokkanische vor, besonders wenn sich gravierende Entwicklungen nicht einfach unterdrücken ließen, nur weil die Ferien begonnen hatten.
Am Tag meiner Hochzeit, dem einen der beiden schönsten Tage meines Lebens, war meine Mutter schon krank. Wir wußten es aber nicht. Nächstes Jahr hingegen war die Diagnose gestellt, und es war klar, daß sie sich von dieser Krankheit vermutlich nicht erholen würde. Dies wurde zur Gewißheit im Jahr darauf, und in jenem Sommer fuhr ich nach Marokko, weil es ihr zwar schlecht, aber noch nicht dramatisch schlecht ging – das kam erst im Herbst.
Eine Woche vor Weihnachten war sie tot.
Vorher hatte sie alles, aber auch alles versucht, um ihrem Schicksal zu entkommen, aber die Krankheit reagierte jedesmal durch die weitere Zerstörung ihres Körpers.
Was hätten wir – schwankend zwischen Auflehnung und dem Gefühl der Ohnmacht - gegeben für einen Streifen Hoffnung,
Es war während dieses letzten Sommers, auf einem Rundgang durch den Bazar. Ich bewunderte wieder einmal die aufgetürmten gesalzenen leuchtendgelben Zitronen, die glänzendgrünen oder dunkelschwarzen Berge von Oliven, die Fleischereien, wo an hoch befestigten Haken Hammelhoden baumelten und Hackfleisch und Eier sich in der Hitze den Anschein der Frische gaben - und dann der Gang mit den Spezereien, den Düften, den Gewürzen, und - den Straußeneiern, ausgeblasen, erwerbbar im ganzen oder in kleinen Stücken, Medizin gegen dieses oder jedes Übel, ich weiß es nicht mehr. Ich wollte eins, aber ich kriegte es nie - zu teuer, zu fragil für die lange Rückreise, und es gäbe vielleicht Probleme an der Grenze, und wohin zu Hause mit dem Staubfänger.
Also kein Ei.
Ich verzichtete wie jedes Jahr.
Aber dann, in jenem Jahr, bat ich meinen Mann, dem Standinhaber die Krankheit meiner Mutter zu schildern. Er stand da, hörte zu, hinter ihm die Regalwand mit hunderten kleiner Töpfchen unterschiedlichster Substanzen, so viele Wirkstoffe, so viele Mixturen…
Dieser Mann sagte uns, er habe da etwas, das habe in solchen Fällen schon geholfen, manchmal aber natürlich auch nicht – egal, wir kauften es, und für viel zu niedrig hielt ich den Preis angesichts der Wirkung, die es entfalten sollte – sorgfältig wurde das Päckchen eingewickelt und verschnürt und verknotet, damit es die Fahrt zurück überstehen konnte.
… … …
Nach unserer Rückkehr wurde auch dieses Mitbringsel - halb gläubig, halb ungläubig - verteilt. Meine Mutter nahm es, betrachtete es und sagte mit müder Stimme:
- Ja, vielleicht, warum nicht, wer weiß – es gibt schließlich mehr Dinge zwischen Himmel und Erde…"
… … …
Nach ihrem Tod räumten wir ihre Schränke aus.
In ihrem Nachttisch im ehelichen Schlafzimmer fand ich das Päckchen, ungeöffnet und unversehrt.
Beige ist doch keine Farbe
Helga Rougui
Beige ist doch keine Farbe
Sie weiß gar nicht mehr, ob sie in jener Nacht in Paris ein rotes Kleid angehabt hat. Aber es war eine dieser samtweich pulsierenden Großstadtnächte, in denen man eigentlich keine andere Wahl hatte, als eine solche Provokation zu tragen, und als Mitternacht vorbei war und sie den letzten Liebhaber und das letzte Bistrot verlassen hatte, um ins Hotel zurückzukehren, tanzte sie, die Highheels in der Hand, barfuß die Straßen entlang und fühlte die Freiheit wie nie zuvor - und nie danach. Allein in Paris unter Fremden, keine Vorschriften, keine Urteile, keine Kompromisse, und die Ferne, die jetzt Nähe war, wirkte wie Sekt auf sie. Das Wetterleuchten einer Idee - nie mehr zurückkehren in die Enge des Büroalltags, hier bleiben und da sein und das Leben endlich zum Leben verwenden.
Rot. Das war die Farbe jener Nacht, die jetzt vierzig Jahre zurücklag.
Sie lehnt sich zurück und schließt kurz die Augen, öffnet sie wieder, als eine der Mitreisenden ihr die hellbraune Umhängetasche in den Oberarm rammt, sich ohne ein Wort der Entschuldigung weiterdrängelt bis zu ihrem Sitz, in den sie sich ächzend fallen läßt. Für jedes Mitglied der Reisegruppe "Paris für Senioren" ist der Spaziergang vom Boulevard Saint-Michel, wo der Bus Station gemacht hat, bis zum Grand Bassin im Jardin du Luxembourg anstrengend gewesen. Die Unterhaltung derer, die bereits unter erleichtertem Seufzen wieder ihre Plätze eingenommen haben, kreist jetzt um Hüftschmerzen, Rückenschmerzen, Fußschmerzen - eine Abwechslung zu den üblichen Themen wie Herzvorhofflimmern, Diabetes, Bluthochdruck. Ihr tut zur Abwechslung nichts weh, aber nur, weil sie wohlweislich im Bus geblieben ist - der lose Kies der Wege im Jardin, die Treppen, all das wäre mit dem Rollator kaum zu bewältigen gewesen.
Paris erkunden, zu Fuß ein Quartier erfühlen, ein neues Restaurant entdecken, im Parc Monceau spazierengehen, den Marché aux Puces de Saint-Ouen besuchen und durch alte Schellackplatten stöbern, stundenlang, ohne müde zu werden, durch den Louvre wandern, in der Rue Lepic Reblochon kaufen, im Café de Flore den Apéritif nehmen und "L'Etre et le néant" lesen, nach Montmartre hochsteigen und sich malen lassen, am Ufer der Seine die Bouquinistes besuchen und den Sonnenuntergang hinter Notre-Dame genießen ...
Vorbei.
Langsam füllt sich der Bus. Graue Fischerhüte, weißhaarige Dauerwellen, schweißglänzende Glatzen, cremefarbene Blazer, sandfarbene Hosen mit Bügelfalte, beige wadenlange Röcke und eierschalenfarbene Gesundheitsschuhe mit Klettverschluß.
Das Alter ist beige.
Und sie? Hockt da in ihrer Reihe wie eine riesige Krähe, schwarzes Kleid, schwarze Stützstrümpfe, schwarze Gesundheitsschuhe.
Nur die knallrot gefärbten Haare erinnern an eine vergangene Zeit.
Morgens, beim Frühstück ...
Sie: (klopft auf ihr Frühstücksei) - WAS???
Helga Rougui
Er: - Wie - was?
Sie: - Du hast seit zehn Minuten kein vernünftiges Wort mehr gesagt.
Er: - Moment, ich habe vorhin noch gesagt - "Morgen".
Sie: - Na toll - du hast mir einen - hoffentlich guten - Morgen gewünscht - und seitdem sitzt du vor deinem Butterbrot, als hätte es dir was angetan.
Er: - Hat es ja auch ... warum kaufen wir eigentlich keine Halbfettbutter mehr? Muß es unbedingt diese vollfette irische Variante sein?
Sie: - Wieso nicht? Reine Natur, ohne Zusatzstoffe, und nicht zur Hälfte aus Wasser und Gelatine.
Er: - Ja, aber dafür ein Drittel weniger Kalorien, und macht nicht so dick.
Sie: - Was heißt hier dick? Schmier halt weniger drauf auf dein Brot - mußt ja die Butter nicht fingerdick stapeln.
Er: - Das Auge will aber auch was Nettes sehen, bevor die Zähne reinbeißen ... und so ne dünne Schicht Streichfett erinnert mich immer an Bilbo und sein " mein Leben wie Butter zu dünn verstrichen auf einer Scheibe Brot" und so weiter ...
Sie: - Das ist albern, du lebst doch nicht im Herr der Ringe-Universum, und das bißchen Butter wird ja wohl kaum an deiner schlechten Laune schuld sein ...
Er: - Nein, aber ich hab mich heute morgen gewogen - ich bin einfach zu fett.
Sie: - Erst mal, du bist nicht fett. Wenn hier einer fett ist, dann ich - und willst du etwa sagen, daß ich an deinem Übergewicht schuld bin, weil ich irische Butter kaufe?
Er: - Nein, wohl nicht - na ja doch, irgendwie schon - warum kaufst du nicht wie bisher die Halbfettbutter?
Sie: - Ach so, und dann meinst du, du nimmst ab, weil du die Halbfettbutter ißt?
Er: - Offengestanden, es ist nicht die Butter allein, du kochst einfach zu große Portionen, bestellst Schweinepfoten im Internet, es gibt zu wenig Gemüse ...
Sie: - Mag sein, in der Familie, in der ich groß geworden bin, ist noch keiner verhungert, dafür hat meine Mutter schon gesorgt. Aber daß ich das jetzt schuld sein soll, daß wir beide zu dick sind, das ist ja wohl die Höhe! Wenn wir bei Rewe einkaufen, wer schmeißt denn kurz vor der Kasse die Knoppers, Negerküsse, Hanutas -
Er: - Negerküsse sagt man nicht mehr, das heißt jetzt Schaumküsse oder Dickmanns!
Sie: - Ha! Merkste was? DICKmanns! Und lenk nicht ab bitte, wo war ich - ja also die Dominosteine, Haribofrösche, Erdnüsse ...
Er: - Nüsse sind gesund, sagt Bas Kast!
Sie: - Ach hör doch auf - du weißt genau, was ich meine. Du kaufst den ganzen Süßkram und wunderst dich, daß dein Blutzucker aus dem Ruder läuft und daß du stetig zunimmst -
Er: - - und du bestellst bei bofrost* zehn verschiedene Eissorten, die dann da rumliegen und gegessen werden wollen!
Sie: - Die sind für unsere Enkel, wenn sie uns besuchen kommen, ja?
Er: - Aha, und warum essen wir die dann - und wenn die Kleine kommt und ein Eis will, ist nichts mehr da?
Sie: - ÄÄhhmm - weil ich vielleicht zu wenig bestellt habe??
Er: - Und im übrigen - wenn du weiter solche fetten Soßen zauberst, wird das alles nichts mit dem Abnehmen ...
Sie: - Aber du magst die doch so gerne ... mußt ja nicht immer so viel davon essen.
Er: - Wenn sie nun mal da ist -
Sie: - Trotzdem - du bist ein freier Mensch und kannst auch nein sahen - das ist das erste, was man bei WW lernt - daß man nein sagen kann ...
Er: - Geh mir weg mit WW - im Angesicht eine guten Bratensoße bin ich kein freier Mensch und will es auch nicht sein!
Sie: - Siehste - da liegt der Hase im Pfeffer - du bist willensschwach ...
Er: - ... und du bist total verfressen und lebst das voll in deiner Kochkunst aus ...
Sie: - Apropos Hase - das wäre mal wieder was, so ein schöner Hasenpfeffer - viel leckerer als Kaninchen, das schmeckt so blaß, aber Hase hat diesen würzigen Wildgeschmack und paßt jetzt so was von gut zur Jahreszeit ...
Er: - Aber dann möchte ich einen richtigen Hasenbraten, mit Speckscheiben, aus dem Backofen - und was gibt es dazu?
Sie: - Kartoffelklöße Schaumburger Art vielleicht? Und Preiselbeer-Rotkohl? Und natürlich aus dem Bratenfond eine schöne sämige Wacholder-Sahnesauce ...
Er: - Gebongt.
Feuer aus Feuer an
Die Geschichte von Drax dem Drachen
Helga Rougui
Feuer aus Feuer an - Die Geschichte von Drax dem Drachen
Mööö nööö Scheiiiiizzze, nuschelte Drax und pustete erneut die Luft heftigst durch seine Nüstern.
Es machte leise POFF und ein graues Rauchwölkchen zerplatzte vor seinem rechten Nasenloch, vor dem linken tat sich dafür gar nichts.
Nu ischesch linksch auch vaschtopffff, ächzte der Besitzer des blockierten Riechorgans und verkniff sich ein Tränchen. Feuchtigkeit jedweder Art würde alles nur schlimmer machen, das hatte er gelernt – jedoch offenbar nicht, daß eines jeden Drachen inneres Feuer zu warten, zu hegen und zu füttern sei.
Drax wußte genau, daß er in den letzten Wochen seinen internen Glutherd nicht ausreichend genährt hatte. Temperaturen von an die 40 Grad im Schatten hatten den ganzen uferlos heißen Sommer lang die Körper aller Lebewesen gekocht. Bei einem solchen Wetter stand er nicht so sehr auf die notwendige tägliche Portion glühende Kohlen noch den Sack geröstete Kastanien, frisch aus dem Feuer geholt. Auch den glosenden Stapeln Buchen- und Ahornscheite hatte er ein ums andere Mal eine Absage erteilt zugunsten riesiger, mit glitzernden kühlen Megakugeln vollgepackter Eisbecher. Zwar hatte er darauf geachtet, das Gefrorene in den Geschmacksrichtungen Himbeer, Erdbeer, Brombeer und Vanille auszuwählen, um so die purpurn-schweflige Illusion eines brennenden Feuers aufrechtzuerhalten. Aber Eis blieb Eis und war letztlich doch nur aggregatveränderte Flüssigkeit, die er sich so gierig wie gedankenlos einverleibt hatte.
Und nun hatte er den Salat.
Alles war aus, kalt, tot. Er konnte seine Arbeit nicht mehr tun, seinen Pflichten nicht mehr nachkommen, und von höchster Stelle wurde er bereits mit kritischem Blick beobachtet – ob man ihn wohl ablösen müsse in allernächster Zeit, den nutzlosen Eisfresser, der keine einzige knusprige Bulette mehr produziert hatte seit Monaten?
Noch einmal zog Drax mindestens einen Hektoliter Luft in seine Lungen, um sie mit großer Kraft durch seine Nase auszustoßen – doch die gelbrotlodernde Flamme, die sonst jedem Nasenloch entwich, blieb aus, und nun kamen auch nicht einmal mehr Rauchwölkchen zum Vorschein, im Gegenteil, zwei lange klirrende Eissplitter bildeten sich, die ihm bis ans Kinn reichten.
Hä? Das war doch eigentlich unmöglich! Immerhin war es gerade erst Spätsommer, und das Eis gehörte auch zu dieser Jahreszeit durchaus in die Waffeltüte und nicht an seinen grünen Zinken. Wenn er allerdings bedachte, wieviel von dem Zeugs er in den letzten Wochen vertilgt hatte -
Drax brach die beiden Zapfen ab. Sie fühlten sich unter seiner Berührung ein wenig klebrig an. Er leckte erst an dem einen, dann an dem anderen.
Ja was - !?
Zucker!! Lecker!!!
Beherbergte er neuerdings eine Süßwarenfabrik?
Er leckte noch einmal und lächelte – soweit ein gestandener Drache von seinem Kaliber seine Mimik dahingehend verknautschen konnte. Es gab wahrlich üblere Körperausscheidungen als diesen strahlendweißen, kristallinen Stoff. Ob er auch Dropse oder Gummibärchen konnte? Die waren zwar nicht die reine Lehre, aber dafür umso lustiger in Farbe und Form.
Abwechslung ist das halbe Leben, murmelte Drax und hustete erneut durch alle verfügbaren Öffnungen seines Kopfes. (Weitere Feuchtgebiete zu aktivieren fand er im Zusammenhang mit Eßbarem niveaulos und schlicht unappetitlich.) Das Ergebnis seiner Schnauberei konnte er zwar nicht sehen, aber ein vorbeifliegender KACKadu (immerhin) lachte sich bei seinem Anblick dermaßen scheckig, daß er im Sturzflug voll in das Unterholz eines Mangrovenwalds abKACKte und dort im schlammigen Wasser im Angesicht eines Alligators über seine Sünden nachzudenken nicht mehr lange in der Lage war.
Derweil sich Drax zwei Zuckerstangen aus den Ohren zog und jeweils eine Tafel weiße und dunkle Schokolade aus den Kiemen pulte. Die Nase hatte diesmal zwei Längste Pralinen Der Welt hergegeben und aus seinem Maul kullerten immer noch und unaufhörlich Nonpareilles, die bereits einen mächtig bunten Hügel zu seinen klauenbewehrten Pfoten bildeten.
Alles in allem, freute sich Drax, hatte er jetzt schon mal das Angebot einer größeren Konditorei produziert, der Auslage eines Café Heinemann (oder von mir aus auch Café Reichard) ebenbürtig.
Fehlte nur noch das Täßchen doppelter Espresso macchiato zur Erdung der Geschmacksnerven sowie ein Fäßchen Bananenlikör für die heitere Stimmung.
Drax packte seine sämtlichen Süßigkeiten auf einen Riesenhaufen und tanzte, da aus oben erwähnten Gründen kein Lagerfeuer zustandegekommen war, um einen Teich voller Goldfische herum. Alsbald vermerkten die Kaltwasserbewohner bei sich eine kollektive leichte Übelkeit von seinem Rundherumgetrampel, und sie fragten sich ängstlich, wann wohl dieses Urviech das Weite suchen würde, damit sie wieder ihre ewiggleichen Bahnen ziehen und in Ruhe ihr Fischfutter naschen könnten.
(Der Autor dieses Textes sieht die Not der Cyprini aurati und läßt den Drachen seinen Tanz in Richtung des Gebirges fortsetzen, woraufhin die Eselhasen (Lepi californici) anfangen, über Kopfweh zu klagen. Weshalb der Autor dem Drachen mental vermittelt, das Gehopse unverzüglich einzustellen.)
Plötzlich – Drax wußte nicht aus welchem Grund noch wie ihm geschah – hörte er auf herumzuspringen.
Er sollte sich besser einen Weg überlegen, wie er den kalten Ofen in seinen Eingeweiden wieder entzünden könnte. Versonnen musterte er die Berge, denen er sich während seiner wilden Polka genähert hatte, und nahm über der Spitze der höchsten Erhebung einen feinen Rauchstreifen wahr, der sich weiß gegen den blauen Himmel abzeichnete.
Ein Vulkan!
Was für ein Glück!
Genau den brauchte er jetzt.
Mit zweieinhalb- bis dreihundert Riesenschritten war Drax oben auf dem Gipfel angelangt und spähte in die dunkle Öffnung, die dort gähnte.
(Nicht nur die. Ein fulminanter Schluß wird sehr dringend benötigt. Ein Feuerwerk, sozusagen.)
Also – die Öffnung gähnte, und Drax gluckste vor Begeisterung.
Wunderbar! Er sah Lavaströme, die sich in einem höllischen Inferno aufbäumend umeinanderwälzten, und er steckte seine lange Schnauze hinein in den brodelnden Brei und saugte den glühenden Berg aus, als sei er eine köstlich mit Nektar gefüllte Blüte. Er kaute und trank und schluckte – und dann hob er das Haupt und rülpste mit ohrenbetäubendem Gebrüll die eingesogene heiße Luft in den Himmel empor – die sich in einer – nein, in zwei riesigen Stichflammen entzündete und Gott die Spitze seines Bartes versengte.
In Nullkommanix fielen geröstete Tauben, Falken und Wachteln sowie mehrere gut durchgebratene Kampfhubschrauber vom Himmel, und alles war gut.
Glauben Sie noch an den ...?
Eine Ostergeschichte
Helga Rougui
Schon seit den frühen Nachtstunden wälzte er sich hin und her, von wirren Träumen gebeutelt, in denen er den Weg nicht fand, die sorgfältig bemalten Eier aus dem Korb purzelten, die Kinder nicht mehr an ihn glaubten. Immer wieder drehten sich seine schlaftrunkenen Gedanken um das Schicksal des Weihnachtsmannes, der - so munkelte man - das Weihnachtsfest des letzten Jahres nicht überlebt hatte. Er wollte gerade beginnen, die Geschenke zu verteilen und hatte schon den ersten blankpolierten Stiefel im Kamin - da kam der tödliche Luftangriff - eine Armada aus Facebook, Twitter, Instagram, Tik-Tok und Messenger schoß in Pfeilformation auf ihn zu und mitten in seine Brust - er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden, rutschte auf einem Dominostein aus und starb. Von nun an wäre es nicht gelogen, wenn ein naseweiser älterer Bruder zu seinen jüngeren Geschwistern sagte: Den Weihnachtsmann gibt es doch gar nicht, ihr Dummerle!
Er erwachte, setzte sich auf und seufzte tief. Was würden sie wohl morgen mit ihm anstellen, wenn er sich auf den Weg machte? Falls er ihn überhaupt fand. Die warme Moosdecke rutschte zu Boden, und er schlurfte ins Bad, um sich seine beiden prächtigen Hasenvorderzähne zu putzen.
Zum Frühstück hatte es Möhrensalat, ein Karottenomelett und zwei große Stücke Rüblitorte gegeben, die ihm mit einer dicken Scheibe gebutterten Osterbrotes trefflich gemundet hatten. Todesangst machte wohl hungrig - interessante Erfahrung, auf die er bei näherer Überlegung gern verzichtet hätte.
Nun war er startbereit. Er rückte sich die Kippe mit den bunten Eiern, die er sich auf den Rücken geschnallt hatte, zurecht.
Er hoppelte aus seinem Bau und trat hochaufgerichtet auf den Waldweg, der geradewegs in die nächste Stadt führte. Noch ein Blick nach oben - die Luft stand bewegungslos - der Oberste Oberostermeister hatte rechtzeitig die Zeit zu einer Zeitschleife gebunden, in der nur er sich bewegen konnte, alles sonst auf der Welt stand still und starr und gab ihm so die Gelegenheit, seine Aufgabe zu erfüllen. Same procedure as every year. Auf diese Weise hatte auch der Weihnachtsmann immer seine Geschenke verteilen können.
Er hoffte, daß es für ihn selbst ein nächstes Jahr geben würde.
Er war dabei, den fünften Garten mit bunten Eiern zu bestücken, als es zu schneien begann. Anfang April war das neuerdings nicht ungewöhnlich für Mitteleuropa; er hätte, so überlegte er, doch besser mit Südeuropa beginnen sollen. Während er ein Ei am Fuße eines weißbestaubten Rhododendron ablegte, hörte er hinter sich ein feines Stimmchen.
"Wer bist du, und was machst du da?"
Er drehte sich um, musterte die kleine Gestalt, die da im Häschenschlafanzug mit Hasenpantoffeln an den Füßen im frischgefallenen Schnee vor ihm stand, und quetschte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor:
"Wonach siehts denn aus, Herzchen?"
"Ich weiß nicht recht, du siehst aus wie ein Felltier, aber du kannst reden. Ich habe so ein Felltier, das sieht aus wie du, aber das kann nicht reden. Mein Bruder Felix, der ist ein Mensch, der hat kein Fell, und er kann reden. Also bist du ein Mensch mit Fell? Oder Felix ist ein Felltier ohne Fell, das reden kann?"
Ach, Schätzchen, dachte sich der Osterhase, du hast wahrhaftig die Gabe analytischen Denkens. Aber kannst du auch glauben?
Laut sagte er:
"Ich bin ein Felltier, ja, das stimmt, aber ich bin ein besonderes Felltier. Ich bin der Osterhase, der dir zu Ostern die bunten Eier bringt."
"Auf welchem Planeten lebst du denn", meinte das kleine Mädchen, das da vor ihm stand, "Bunte Eier zu Ostern? Die kauft die Mama im Bioladen und kocht sie und färbt sie mit gesunden Naturfarben, alle bio, und dann kommt der REWE-Lieferdienst und bringt Lindt-Schokoladeneier und einen Riesen-Schokohasen. Der hat kein Fell und kann nicht reden. Und der ist der echte, einzige, wirkliche Original-Osterhase. Ich habe Mama gefragt, die hats gesagt."
So ist das also, dachte der Osterhase seinen letzten Gedanken, wenn man durch die Realität getötet wird. Ein Lindt-Schokoladen-Osterhase hat mich auf dem Gewissen.Jeder stirbt auf seine Weise.
P.S,
Aber Gott hat - IHMseidank - immer noch das letzte Wort in dieser Welt.
"Selbst die kleinsten Erdenbewohner sind nun völlig desillusioniert", sagte ER sich, "da mag ich mich nicht einmischen. So wie die Menschen sich betten, so liegen sie, und wenn sie ihren Kindern keine Mythen mehr gönnen, so will ich ihnen nicht im Wege stehen. Aber für ihre Opfer kann ich etwas tun. Für jeden gibt es einen Platz im Paradies."
Und so kam es, daß der Weihnachtsmann und der Osterhase zwei gemütliche Zimmerchen im Himmel bezogen, mit einem schönen Ausblick auf den Garten Eden, und dort sitzen sie bzw. stehen bereit.
Denn immer dann, wenn jemand, der noch an sie glaubt, ihrer Dienste bedarf, machen sie sich zu gegebener Zeit auf den Weg und die kleinsten und auch ein paar größere Erdenbürger glücklich: der Weihnachtsmann bringt zu Weihnachten die Geschenke und der Osterhase zu Ostern bunte Eier.
So wars, so ists und so wirds immer sein.
Bücher, ein Leben
Helga Rougui
Als Gerd zwölf Jahre alt war, während der Nazizeit, es war noch nicht Krieg, kaufte er sich das erste Reclambändchen, einen Klassiker, Schiller oder Goethe, und da die Heftchen nur ein paar Pfennige kosteten, hatte er bald eine ansehnliche Sammlung deutscher und ausländischer Autoren angehäuft. Er liebte diese Literatur, und wenn andere einen Groschenroman lasen, dachte er bei sich, wie langweilig, denn er, wenn auch ein Halbwüchsiger, empfand das, was mancher als schwere Kost bezeichnet hätte, als spannend und lohnend. Lieber ein Buch als ein Heimabend bei der HJ, lieber ein Wochenende mit Lesen verbringen als mit dem Jungvolk draußen im Wald Soldat spielen.
Diese Ader, erzählte er später gern, habe er von seinem Vater, der auch viel las, jedoch keine Klassiker, und der während seiner Anstellung als Chauffeur des einzigen Filmtheaterbesitzers der Stadt während der dreißiger Jahre manch halbe Stunde Wartezeit zu füllen hatte, und Jahrzehnte später, als er kurz nach der Hochzeit seines Sohnes starb, fand man ihn auf dem Sofa liegend, die Hände gefaltet über einer aufgeschlagenen Ausgabe des Grafen von Monte Christo. Mitten in seiner Trauer dachte Gerd auch, wie schade, nun hat der Papa das Ende des Romans nicht mehr erfahren.
Mit achtzehn, drei Jahre vor Ende des Krieges, mußte er an die Front, erst nach Frankreich, dann nach Italien. Ihm ging es wie so vielen, die Angst begleitete ihn ständig – noch Jahrzehnte später fuhr er manchmal von Alpträumen gepeinigt aus dem Schlaf und seine Frau mußte ihm versichern, daß da kein Krieg mehr sei, es sei alles gut, er sei zu Hause in Sicherheit. Später dann, als sie tot und er bereits schwer erkrankt war, mußten seine Kinder ihm immer wieder und wieder sagen, daß die Halluzinationen, die Bilder aus dem Krieg heraufbeschworen und an denen er infolge seiner Tabletteneinnahme litt, keine Realität waren.
Was aber während der Zeit an der Front und in der Zeit vor seinem Tod und in der Zeit dazwischen, die man Leben nennt, immer real war, war die Bibliothek. die auf ihn wartete (jedenfalls meistens), und immer freute er sich darauf, sich mit seinen Büchern beschäftigen zu können.
Als Soldat las er immer von neuem die paar Bändchen, die er - im Handgepäck verstaut - hatte mitnehmen können. Es waren nur wenige, aber diese unendlich kostbar angesichts des Schreckens, der ihn umgab. Das Haus, in dem er mit seinen Eltern wohnte, wurde ausgebombt, sein Vater und seine Mutter überlebten, aber seine gesamte bis zu diesem Zeitpunkt zusammengetragene Büchersammlung wurde zerstört. Entschädigung für derlei Dinge bekam man nach dem Kriege nicht, seine Eingabe diesbezüglich wurde abschlägig beschieden.
Ihm war klar, daß er wieder ganz von vorn anfangen mußte.
Am Anfang hatte er die Angewohnheit gehabt, seine Bücher auf dem hinteren Deckblatt zu numerieren – so daß seine Tochter, wenn sie nach seinem Tode im Antiquariat stöberte und auf ein Buch traf, das sie in ihrer Kindheit im väterlichen Bücherschrank hatte stehen sehen, unwillkürlich den hinteren Einband öffnete und eine Nummer vorzufinden erwartete, aber der Zufall wollte das nie, es gab ja auch nicht nur ein Exemplar, und wer weiß, wohin der Buchhändler, an den der Nachlaß gegangen war, diesen inzwischen weiterverkauft hatte.
Als die Bücher zu einigen Tausend in speziell angefertigten Bücherschränken bis unter die Decke krochen, ließ er das Numerieren sein. Er ordnete sie nach Themen und Epochen, die schöne Literatur überwog stets die Sachliteratur, von der allerdings auch reichlich vorhanden war. Die Bücher breiteten sich überall in dem kleinen Einfamilienhaus aus, in dem er mit seiner Familie lebte, sie eroberten den Keller, Regale wurden auf dem Treppenabsatz und im Korridor angebracht, im Schlafzimmer fand sich immer noch Platz für das eine oder andere Gestell. Seine Frau kämpfte um ein Schränkchen in einer Ecke des Kellers und erhielt es, und dort brachte sie ihre Tier-, Pflanzen-, Kochbücher und Medizinratgeber unter. Ihn störte es nie, daß seine Frau seine literarischen Interessen nicht teilte, sie hatte Wichtigeres in dieser Ehe zu tun, meinte er augenzwinkernd, und die Kinder konnten das nur bestätigen, wurden sie nicht nur bestens versorgt, sondern gleichermaßen heiß geliebt. Eine Zuhörerin fand er in der älteren Tochter, die zwar nichts beisteuern konnte zu den abendlichen Gesprächen, was er nicht schon wußte, die sich aber auf diesem Wege eine solide Halb- bis Dreiviertelbildung erwarb, so wie sie nicht einmal die Schule mit ihrem Anspruch auf Allgemeinbildung bieten konnte - das war während der Sechziger. Als seine jüngere Tochter irgendwann in den frühen Achtzigern beschloß, endlich von zu Hause auszuziehen, erschien er eine halbe Stunde, nachdem sie lediglich erst einmal ihre Absicht im Familienkreise kundgetan hatte, mit einem Zollstock in ihrem Zimmer und – sie traute ihren Augen nicht - vermaß die Wände zwecks Einrichtung neuer Bücherregale.
Buchhandlungen und Antiquariate wurden regelmäßig abgegrast, Buchkataloge aus ganz Deutschland durchforstet, um Neuerwerbungen für eine Bibliothek zu tätigen, die immer mehr anwuchs und Raritäten versammelte, die nirgendwo sonst anzutreffen waren.
Wenn Gäste das Haus betraten und ob der Fülle des Gedruckten um sie herum aus dem Staunen nicht herauskamen, wußte er, daß jetzt wieder diese mit zurückgelegtem Kopf gestellte Frage folgte:
" Herr B., haben Sie die denn auch alle gelesen???" – und er erklärte, daß das, was sie meinten, nämlich ein Buch von vorn bis hinten durchzulesen, angesichts der Anzahl der Bücher, die er inzwischen besaß, nicht möglich sei.
Tatsächlich aber hatte er sehr viele wirklich ganz gelesen, und im übrigen hatte er jedes Buch, das er jemals gekauft hatte, zumindest weitgehend an- und im weiteren kursorisch durchgelesen. Er kannte sie alle, und da der Krieg ihm seinen besten Freund genommen und späterhin der Tod einen Bekannten, aus dem ein Freund hätte werden können, geholt hatte, waren seine Bücher seine einzigen Freunde.Wenn er sie von Zeit zu Zeit neu sortierte und ordnete, waren sie wie vielversprechende lebende Wesen in seinen Händen, die ihn selbst am Leben hielten. Das wurde besonders deutlich, als sein Ende kam, als er schließlich zu schwach war, um überhaupt auf eine Leiter zu steigen. geschweige denn Bücherstapel zu rücken, er konnte sich in nichts mehr selber helfen, und als ihm klar wurde, daß er sein Haus und seine Bücher würde verlassen müssen, um in ein Pflegeheim zu ziehen, sagte er in der Woche vor seinem Tod zu seiner Tochter, was soll ich dann noch auf der Welt, wenn ich meine Bücher nicht mehr sehen darf.
Während seines ganzen Lebens hatte er immer ein spezielles Heftchen bei sich getragen, in denen all die Bücher vermerkt waren, die ihm noch dringlichst fehlten und nach denen er eifrig fahndete. Und immer wieder einmal während seines Lebens hatte er die Freude, eines dieser heißbegehrten Exemplare aufzustöbern, so daß die Liste der vor seinem Tode unbedingt noch anzuschaffenden Bücher mit der Zeit immer kürzer wurde, bis nur noch circa dreißig übrig waren.
Die zu bekommen hat er nicht mehr geschafft.
Hier die Geschichte zu meinem Gegenstand
Helga Rougui
Besitzen Sie auch einen Gegenstand, der Sie schon sehr lange durchs Leben begleitet und mit dem besondere Gefühle und Erinnerungen verbunden sind?
Was ist Ihr Gegenstand? Was verbinden Sie mit ihm?
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Hier die Geschichte zu meinem Gegenstand;
Bildersprache
Am Ende des Prüfungstages war von der frischgebackenen Lehrerin nicht mehr viel übrig - erschöpft und gleichzeitig überdreht, erleichtert über das zwar nicht glanzvoll, aber bestandene Zweite Stattsexamen fuhr ich auf einen Sprung bei meinen Eltern vorbei, um dann mit meiner besten Freundin nicht zu knapp anzustoßen.
Am nächsten Tag: der schönste Kater meines Lebens.
Erst Tage später wurde sie mir vorgestellt. Fünfzehn mal zwanzig Zentimeter groß, den Rücken mit weichem, blauen Samt bezogen, zeigt sie den Heiligen Georg, wie er den Drachen tötet, ihm eine lange Lanze mitten in den Schlund bohrt. Auch wenn sich das Untier noch windet, der Heilige hat schon gewonnen - die Gefahr ist gebannt, das Schrecknis beseitigt, und "Mögest du so unerschrocken alle Hindernisse angehen, die dir auf deinem Lebensweg begegnen werden," so in etwa mag sich mein Vater geäußert haben, als er mir das Geschenk überreichte. Die Sonne fiel schräg in den Raum und brachte den silbernen Riza der Ikone zum Glitzern, das Relief erwachte zum Leben - der Hl. Georg starrte gebannt auf seinen Gegner - war da nicht auch ein bißchen Angst im Spiel?
Wenn ich die Ikone heute betrachte, ist mir dieser Tag, als ich Mitte zwanzig war, wieder gegenwärtig. Und meine Gedanken gehen noch weiter zurück - mit der Ikonenmalerei hatte mein Vater angefangen, als ich fünfzehn war, und er hatte seine Töchter mit dieser Leidenschaft angesteckt. Techniken wie Eitempera, Firnissen, Hinterglasmalerei wurden uns vertraut, es brauchte eine ruhige Hand und viel Geduld, um diese teils sehr fein und detailreich gestalteten Bilder zu kopieren. Mit jedem vollendeten kleinen Kunstwerk wurden wir besser.und während des Malens hörten wir die Heilige Liturgie der Ostkirche, seien es die weichen Klänge der russisch-orthodoxen Gesänge oder die etwas härteren, orientalisch anmutenden Melodien des griechisch-orthodoxen Ritus
Das Arbeitszimmer meines Vaters und jede freie Ecke im Wohnzimmer waren gepflastert mit gekauften oder selbstgemalten Ikonen in allen Größen. Einen Riza haben wir natürlich nie hergestellt, solche Ikonen wurden gekauft - und so war auch meine Examensikone eine gekaufte, ein richtiges, mein erstes richtiges Kunstwerk, perfekt in der Ausführung und passend zur Besonderheit des Ereignisses.
Meine Examensikone hat mich mein Leben lang begleitet, hat jeden Umzug, in Seidenpapier gewickelt, überstanden. Flankiert wurde sie von zwei anderen Werken.
Die eine ist eine sehr kleine Ikone, einer der allerersten Versuche meines Vaters, die ebenfalls den Hl. Georg zeigt, der segnend die linke Hand erhebt; leider hat sein etwas zu pausbäckig geratenes Gesicht einen grünlichen Farbton, so als ob dem guten Mann ein wenig übel wäre. Dieses Zeichen, daß auch meinem Vater einmal etwas mißlungen war, habe ich zu seinem Mißbehagen ebenfalls sozusagen in Ehren gehalten. Warum habe ich sie ihm nicht zurückgegeben, wenn er darum bat? Für ihn war es wie ein Spiel, immer wieder nachzufragen - ein winziges Indiz einer Unvollkommenheit, die wahrlich nicht zu seinem Wesen gehörte, war seinem Einfluß entglitten, und das amüsierte ihn.
Die andere Ikone, mittelgroß, um 1900 entstanden, sehr schlicht, kein Gold, kein Silber, keine bunten Farben, in warmen Gelbtönen gehalten, eine zärtliche Muttergottes mit dem Jesuskind, hing direkt rechts neben seinem Schreibtisch, so daß er jederzeit einen Blick darauf werfen konnte.
Auch jetzt, in meinem neuen Zuhause, hängt sie in meinem Arbeitszimmer.
Blutwurst
Helga Rougui
"Roboteddo45. Tür zu."
Mein Haushaltsrobot schloß die Tür, baute sich davor auf und blinkte abwartend.
"Roboteddo45. Tür zu von außen."
Ihre Glasaugen blitzten rot auf, sie öffnete die Tür, verließ mein Arbeitszimmer und zog sie leise hinter sich zu.
Manchmal war ich mir nicht sicher, ob diese Dinger nicht doch denken konnten und mehr registrierten, als meiner Privatsphäre guttat. Aber sie waren so normal, wie es Zahnseide früher gewesen war, in dieser Welt des Jahres 2278, in der niemand mehr selber putzte, kochte, Wäsche wusch, in der es keine Arbeit, keine Kinder, keine Krankheiten, keine Außenwelt mehr gab.
Wir, die gutbetuchten Übriggebliebenen, saßen in den unterirdisch angelegten Städten, die geniale Stadtplaner direkt nach der Großen Katastrophe entworfen und mit wessen Hilfe auch immer erbaut hatten. Gut, daß wir uns nicht mehr fortpflanzen konnten - so reichte der anfangs vorhandene Platz, und die Wohnebenen hatten später nicht ausgeweitet werden müssen.
Durch die chemische Umstrukturierung unserer DNA hatten wir vermutlich eine überdimensional lange Lebenserwartung - wie lang, das wußte keiner, die Katastrophe war ja erst circa zweihundertfünfzig Jahre her und noch war keiner von denen, die sich damals für teuer Geld unter die Erde gerettet hatten, gestorben, und es war seitdem auch niemand krank geworden oder fühlte sich sonstwie unwohl. Außerdem ernährten wir uns alle bio-soja-vegan-laktosefrei. Das war schon eine Garantie ansich, daß wir uns möglicherweise perpetuieren konnten bis in alle Ewigkeit. Nur die Roboteddos, die uns die lästige Alltagsschinderei abnahmen, übertrafen uns womöglich an Langlebigkeit.
Jetzt aber mußte ich dringend allein sein. Ich mußte nachdenken.
Die Anwesenheit meines Haushaltsrobots würde mich nur nervös machen - nicht, daß ich etwas Illegales im Sinn gehabt hätte, das sicher nicht - ich gehörte schließlich zu denjenigen, die tief im Erdkern ihre Wohnkugel hatten. Meine WK lag in der - 43. WohnEbene. Dort waren die besten Lufterzeuger und Klimamaschinen installiert, die die Atmosphäre wie vor der Großen Veränderung gestalteten. Die armen Schweine, die in den erdoberflächennahen Ebenen existieren mußten, hatten oft zu kämpfen mit den Ausdünstungen der Katastrophe, die uns in den Untergrund getrieben hatte. Dort befanden sich sämtliche Wohn- und Laden-Kugeln sowie die Nahrungspillenausgabestellen. Diese Pillen waren - natürlich, wie schon erwähnt - bio-soja-vegan-laktosefrei.
Ich weiß alles über diese Pillen.
Ich war es, der sie im Jahr 2032 erfunden hat.
Ohne meine Erfindung wären wir verhungert. In unserer neuen Lebenssituation war kein Platz für Farmen, Felder, Weiden, Wälder, Schlachthäuser und Misthaufen.
Also fand ich mich eines Morgens mit einer stattlichen Million Euro auf dem Konto wieder - diese Summe wuchs mit der Zeit, da ich prozentual am Vertrieb beteiligt war. Der Euro war die neue Weltwährung seit dem Untergang Amerikas im Jahre 2024, verschuldet durch einen gewissen Donny Tramp (schillernder Typ, über den niemand mehr etwas Genaues weiß) - und der Übernahme der Weltherrschaft durch Europa unter der Führung unseres unsterblichen Königs Olaf der Erste und der Letzte.
Heute also im Aufzug 16:45/nach untenWE -43/WK100456 hatte ich hinter zwei Personen gesessen, vermutlich weiblichen und männlichen Geschlechts, und ich hatte bemerkt, daß sie eine kleine, halb geöffnete Tasche zwischen sich stehen hatten.
Ich war neugierig und reckte den Hals. Was war das da drin? Konnte das sein? So was gab es doch heutzutage gar nicht mehr?
"Was habt ihr da?" platzte ich mit meiner Frage heraus.
Gleichsam überrumpelt antwortete der weibliche Teil des Pärchens:
"Das ist - eine Leberwurst. Die haben wir von ALL-DIE."
Was war das, dieses ALL-DIE? Und Wurst? Jahrzehntelang hatte ich keine Wurst mehr gesehen.
***
Fröstelnd trat ich ins Freie, und damit meine ich, wirklich ins Freie, nicht in den angenehm gedämpften Schutzraum eines illuminierten, mit samten temperierter Luft ausgestatteten unterirdischen Korridors. Nein, diese Luft hier war echt und sauer, sie kratzte bei jedem Atemzug im Hals und in den Lungen.
Im Aufzug hatten mir Leo und Marina - verstohlen und im Flüsterton - Erstaunliches berichtet.
Auf der Ebene 0 gäbe es eine Subkultur - ohne klimatisierte Wohnkugeln, ohne Roboteddos, ohne automatisierte Dienstleistungsvorgänge, ohne Nahrungspille - stattdessen gäbe es ALL-DIE. Dort gäbe es all die Dinge, die es eigentlich nicht geben durfte, weil sie ungesund, lebensverkürzend, unnatürlich, zuckerig und fettig waren - und Eierlikör gab es dort auch.
Außerdem hatte ich so nebenbei erfahren, daß es auf der ungeschützten Erdoberfläche eine beträchtliche Population gab, die zur Zeit der Großen Katastrophe zu arm gewesen war, um sich unter der Erde einzukaufen und deshalb oben um ihr Überleben gekämpft hatte - mit Erfolg, wie es schien.
Ich stemmte mich gegen den scharfen Wind und hob mein Gesicht einem leichten Sprühregen entgegen. Mein Gott, war das authentisch. Aufregend. Wohl auch etwas unangenehm. Aber insgesamt schmeckte die Luft besser als die auf meiner Wohnebene, die mir plötzlich abgestanden und tot vorkam.
Ich fühlte nach dem dicken Bündel Geldscheine, das die Tasche meines Mantels ausbeulte.
Eine Million Euro - warum hatte ich mir das Geld bar auszahlen lassen?
Der Sicherheits-Roboteddo hatte mich seltsam angeguckt, als ich als letzter und einziger Passagier bis zur Ebene 0 hochfuhr. Die Türen des Aufzugs hatten sich geöffnet, ich war hinausgetreten, keine Alarmglocke schrillte, niemand hielt mich zurück, der Aufzug schloß sich hinter mir und ich war allein.
Es war tatsächlich so einfach.
Die Angst, überwacht zu werden, die mich all die Jahre im Zaum gehalten hatte, entbehrte einer realen Grundlage. Sie war tatsächlich ganz und gar allein die meine gewesen, tief verwurzelt in mir.
Ich marschierte los.
Ich fand die anderen, die nicht in einer unterirdischen Kunstwelt lebten. Ich fand auch dieses ALL-DIE.
Ich kaufte mir dort einen Ring Blutwurst.
Er kostete eine Million Euro - die Preise waren offensichtlich seit zweihundert Jahren etwas angestiegen.
Ich suchte mir eine Parkbank, verzehrte die Wurst, es wurde Abend, und ich hatte keinen einzigen Euro mehr.
Ich hatte meine Wahl getroffen.
Was als nächstes käme, wußte ich nicht.
Aber egal was es war, es würde mir schmecken.
Auch wenn ich dafür würde hart arbeiten müssen.
Hauptsache, frei.
Frei, das zu tun, was ich will.
Könnten Sie einem Ring Blutwurst widerstehen?
Wenn ja, dann stimmt etwas mit Ihnen nicht.