Feuer aus Feuer an
Die Geschichte von Drax dem Drachen
Helga Rougui
Feuer aus Feuer an - Die Geschichte von Drax dem Drachen
Mööö nööö Scheiiiiizzze, nuschelte Drax und pustete erneut die Luft heftigst durch seine Nüstern.
Es machte leise POFF und ein graues Rauchwölkchen zerplatzte vor seinem rechten Nasenloch, vor dem linken tat sich dafür gar nichts.
Nu ischesch linksch auch vaschtopffff, ächzte der Besitzer des blockierten Riechorgans und verkniff sich ein Tränchen. Feuchtigkeit jedweder Art würde alles nur schlimmer machen, das hatte er gelernt – jedoch offenbar nicht, daß eines jeden Drachen inneres Feuer zu warten, zu hegen und zu füttern sei.
Drax wußte genau, daß er in den letzten Wochen seinen internen Glutherd nicht ausreichend genährt hatte. Temperaturen von an die 40 Grad im Schatten hatten den ganzen uferlos heißen Sommer lang die Körper aller Lebewesen gekocht. Bei einem solchen Wetter stand er nicht so sehr auf die notwendige tägliche Portion glühende Kohlen noch den Sack geröstete Kastanien, frisch aus dem Feuer geholt. Auch den glosenden Stapeln Buchen- und Ahornscheite hatte er ein ums andere Mal eine Absage erteilt zugunsten riesiger, mit glitzernden kühlen Megakugeln vollgepackter Eisbecher. Zwar hatte er darauf geachtet, das Gefrorene in den Geschmacksrichtungen Himbeer, Erdbeer, Brombeer und Vanille auszuwählen, um so die purpurn-schweflige Illusion eines brennenden Feuers aufrechtzuerhalten. Aber Eis blieb Eis und war letztlich doch nur aggregatveränderte Flüssigkeit, die er sich so gierig wie gedankenlos einverleibt hatte.
Und nun hatte er den Salat.
Alles war aus, kalt, tot. Er konnte seine Arbeit nicht mehr tun, seinen Pflichten nicht mehr nachkommen, und von höchster Stelle wurde er bereits mit kritischem Blick beobachtet – ob man ihn wohl ablösen müsse in allernächster Zeit, den nutzlosen Eisfresser, der keine einzige knusprige Bulette mehr produziert hatte seit Monaten?
Noch einmal zog Drax mindestens einen Hektoliter Luft in seine Lungen, um sie mit großer Kraft durch seine Nase auszustoßen – doch die gelbrotlodernde Flamme, die sonst jedem Nasenloch entwich, blieb aus, und nun kamen auch nicht einmal mehr Rauchwölkchen zum Vorschein, im Gegenteil, zwei lange klirrende Eissplitter bildeten sich, die ihm bis ans Kinn reichten.
Hä? Das war doch eigentlich unmöglich! Immerhin war es gerade erst Spätsommer, und das Eis gehörte auch zu dieser Jahreszeit durchaus in die Waffeltüte und nicht an seinen grünen Zinken. Wenn er allerdings bedachte, wieviel von dem Zeugs er in den letzten Wochen vertilgt hatte -
Drax brach die beiden Zapfen ab. Sie fühlten sich unter seiner Berührung ein wenig klebrig an. Er leckte erst an dem einen, dann an dem anderen.
Ja was - !?
Zucker!! Lecker!!!
Beherbergte er neuerdings eine Süßwarenfabrik?
Er leckte noch einmal und lächelte – soweit ein gestandener Drache von seinem Kaliber seine Mimik dahingehend verknautschen konnte. Es gab wahrlich üblere Körperausscheidungen als diesen strahlendweißen, kristallinen Stoff. Ob er auch Dropse oder Gummibärchen konnte? Die waren zwar nicht die reine Lehre, aber dafür umso lustiger in Farbe und Form.
Abwechslung ist das halbe Leben, murmelte Drax und hustete erneut durch alle verfügbaren Öffnungen seines Kopfes. (Weitere Feuchtgebiete zu aktivieren fand er im Zusammenhang mit Eßbarem niveaulos und schlicht unappetitlich.) Das Ergebnis seiner Schnauberei konnte er zwar nicht sehen, aber ein vorbeifliegender KACKadu (immerhin) lachte sich bei seinem Anblick dermaßen scheckig, daß er im Sturzflug voll in das Unterholz eines Mangrovenwalds abKACKte und dort im schlammigen Wasser im Angesicht eines Alligators über seine Sünden nachzudenken nicht mehr lange in der Lage war.
Derweil sich Drax zwei Zuckerstangen aus den Ohren zog und jeweils eine Tafel weiße und dunkle Schokolade aus den Kiemen pulte. Die Nase hatte diesmal zwei Längste Pralinen Der Welt hergegeben und aus seinem Maul kullerten immer noch und unaufhörlich Nonpareilles, die bereits einen mächtig bunten Hügel zu seinen klauenbewehrten Pfoten bildeten.
Alles in allem, freute sich Drax, hatte er jetzt schon mal das Angebot einer größeren Konditorei produziert, der Auslage eines Café Heinemann (oder von mir aus auch Café Reichard) ebenbürtig.
Fehlte nur noch das Täßchen doppelter Espresso macchiato zur Erdung der Geschmacksnerven sowie ein Fäßchen Bananenlikör für die heitere Stimmung.
Drax packte seine sämtlichen Süßigkeiten auf einen Riesenhaufen und tanzte, da aus oben erwähnten Gründen kein Lagerfeuer zustandegekommen war, um einen Teich voller Goldfische herum. Alsbald vermerkten die Kaltwasserbewohner bei sich eine kollektive leichte Übelkeit von seinem Rundherumgetrampel, und sie fragten sich ängstlich, wann wohl dieses Urviech das Weite suchen würde, damit sie wieder ihre ewiggleichen Bahnen ziehen und in Ruhe ihr Fischfutter naschen könnten.
(Der Autor dieses Textes sieht die Not der Cyprini aurati und läßt den Drachen seinen Tanz in Richtung des Gebirges fortsetzen, woraufhin die Eselhasen (Lepi californici) anfangen, über Kopfweh zu klagen. Weshalb der Autor dem Drachen mental vermittelt, das Gehopse unverzüglich einzustellen.)
Plötzlich – Drax wußte nicht aus welchem Grund noch wie ihm geschah – hörte er auf herumzuspringen.
Er sollte sich besser einen Weg überlegen, wie er den kalten Ofen in seinen Eingeweiden wieder entzünden könnte. Versonnen musterte er die Berge, denen er sich während seiner wilden Polka genähert hatte, und nahm über der Spitze der höchsten Erhebung einen feinen Rauchstreifen wahr, der sich weiß gegen den blauen Himmel abzeichnete.
Ein Vulkan!
Was für ein Glück!
Genau den brauchte er jetzt.
Mit zweieinhalb- bis dreihundert Riesenschritten war Drax oben auf dem Gipfel angelangt und spähte in die dunkle Öffnung, die dort gähnte.
(Nicht nur die. Ein fulminanter Schluß wird sehr dringend benötigt. Ein Feuerwerk, sozusagen.)
Also – die Öffnung gähnte, und Drax gluckste vor Begeisterung.
Wunderbar! Er sah Lavaströme, die sich in einem höllischen Inferno aufbäumend umeinanderwälzten, und er steckte seine lange Schnauze hinein in den brodelnden Brei und saugte den glühenden Berg aus, als sei er eine köstlich mit Nektar gefüllte Blüte. Er kaute und trank und schluckte – und dann hob er das Haupt und rülpste mit ohrenbetäubendem Gebrüll die eingesogene heiße Luft in den Himmel empor – die sich in einer – nein, in zwei riesigen Stichflammen entzündete und Gott die Spitze seines Bartes versengte.
In Nullkommanix fielen geröstete Tauben, Falken und Wachteln sowie mehrere gut durchgebratene Kampfhubschrauber vom Himmel, und alles war gut.
Glauben Sie noch an den ...?
Eine Ostergeschichte
Helga Rougui
Schon seit den frühen Nachtstunden wälzte er sich hin und her, von wirren Träumen gebeutelt, in denen er den Weg nicht fand, die sorgfältig bemalten Eier aus dem Korb purzelten, die Kinder nicht mehr an ihn glaubten. Immer wieder drehten sich seine schlaftrunkenen Gedanken um das Schicksal des Weihnachtsmannes, der - so munkelte man - das Weihnachtsfest des letzten Jahres nicht überlebt hatte. Er wollte gerade beginnen, die Geschenke zu verteilen und hatte schon den ersten blankpolierten Stiefel im Kamin - da kam der tödliche Luftangriff - eine Armada aus Facebook, Twitter, Instagram, Tik-Tok und Messenger schoß in Pfeilformation auf ihn zu und mitten in seine Brust - er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden, rutschte auf einem Dominostein aus und starb. Von nun an wäre es nicht gelogen, wenn ein naseweiser älterer Bruder zu seinen jüngeren Geschwistern sagte: Den Weihnachtsmann gibt es doch gar nicht, ihr Dummerle!
Er erwachte, setzte sich auf und seufzte tief. Was würden sie wohl morgen mit ihm anstellen, wenn er sich auf den Weg machte? Falls er ihn überhaupt fand. Die warme Moosdecke rutschte zu Boden, und er schlurfte ins Bad, um sich seine beiden prächtigen Hasenvorderzähne zu putzen.
Zum Frühstück hatte es Möhrensalat, ein Karottenomelett und zwei große Stücke Rüblitorte gegeben, die ihm mit einer dicken Scheibe gebutterten Osterbrotes trefflich gemundet hatten. Todesangst machte wohl hungrig - interessante Erfahrung, auf die er bei näherer Überlegung gern verzichtet hätte.
Nun war er startbereit. Er rückte sich die Kippe mit den bunten Eiern, die er sich auf den Rücken geschnallt hatte, zurecht.
Er hoppelte aus seinem Bau und trat hochaufgerichtet auf den Waldweg, der geradewegs in die nächste Stadt führte. Noch ein Blick nach oben - die Luft stand bewegungslos - der Oberste Oberostermeister hatte rechtzeitig die Zeit zu einer Zeitschleife gebunden, in der nur er sich bewegen konnte, alles sonst auf der Welt stand still und starr und gab ihm so die Gelegenheit, seine Aufgabe zu erfüllen. Same procedure as every year. Auf diese Weise hatte auch der Weihnachtsmann immer seine Geschenke verteilen können.
Er hoffte, daß es für ihn selbst ein nächstes Jahr geben würde.
Er war dabei, den fünften Garten mit bunten Eiern zu bestücken, als es zu schneien begann. Anfang April war das neuerdings nicht ungewöhnlich für Mitteleuropa; er hätte, so überlegte er, doch besser mit Südeuropa beginnen sollen. Während er ein Ei am Fuße eines weißbestaubten Rhododendron ablegte, hörte er hinter sich ein feines Stimmchen.
"Wer bist du, und was machst du da?"
Er drehte sich um, musterte die kleine Gestalt, die da im Häschenschlafanzug mit Hasenpantoffeln an den Füßen im frischgefallenen Schnee vor ihm stand, und quetschte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor:
"Wonach siehts denn aus, Herzchen?"
"Ich weiß nicht recht, du siehst aus wie ein Felltier, aber du kannst reden. Ich habe so ein Felltier, das sieht aus wie du, aber das kann nicht reden. Mein Bruder Felix, der ist ein Mensch, der hat kein Fell, und er kann reden. Also bist du ein Mensch mit Fell? Oder Felix ist ein Felltier ohne Fell, das reden kann?"
Ach, Schätzchen, dachte sich der Osterhase, du hast wahrhaftig die Gabe analytischen Denkens. Aber kannst du auch glauben?
Laut sagte er:
"Ich bin ein Felltier, ja, das stimmt, aber ich bin ein besonderes Felltier. Ich bin der Osterhase, der dir zu Ostern die bunten Eier bringt."
"Auf welchem Planeten lebst du denn", meinte das kleine Mädchen, das da vor ihm stand, "Bunte Eier zu Ostern? Die kauft die Mama im Bioladen und kocht sie und färbt sie mit gesunden Naturfarben, alle bio, und dann kommt der REWE-Lieferdienst und bringt Lindt-Schokoladeneier und einen Riesen-Schokohasen. Der hat kein Fell und kann nicht reden. Und der ist der echte, einzige, wirkliche Original-Osterhase. Ich habe Mama gefragt, die hats gesagt."
So ist das also, dachte der Osterhase seinen letzten Gedanken, wenn man durch die Realität getötet wird. Ein Lindt-Schokoladen-Osterhase hat mich auf dem Gewissen.Jeder stirbt auf seine Weise.
P.S,
Aber Gott hat - IHMseidank - immer noch das letzte Wort in dieser Welt.
"Selbst die kleinsten Erdenbewohner sind nun völlig desillusioniert", sagte ER sich, "da mag ich mich nicht einmischen. So wie die Menschen sich betten, so liegen sie, und wenn sie ihren Kindern keine Mythen mehr gönnen, so will ich ihnen nicht im Wege stehen. Aber für ihre Opfer kann ich etwas tun. Für jeden gibt es einen Platz im Paradies."
Und so kam es, daß der Weihnachtsmann und der Osterhase zwei gemütliche Zimmerchen im Himmel bezogen, mit einem schönen Ausblick auf den Garten Eden, und dort sitzen sie bzw. stehen bereit.
Denn immer dann, wenn jemand, der noch an sie glaubt, ihrer Dienste bedarf, machen sie sich zu gegebener Zeit auf den Weg und die kleinsten und auch ein paar größere Erdenbürger glücklich: der Weihnachtsmann bringt zu Weihnachten die Geschenke und der Osterhase zu Ostern bunte Eier.
So wars, so ists und so wirds immer sein.
Bücher, ein Leben
Helga Rougui
Als Gerd zwölf Jahre alt war, während der Nazizeit, es war noch nicht Krieg, kaufte er sich das erste Reclambändchen, einen Klassiker, Schiller oder Goethe, und da die Heftchen nur ein paar Pfennige kosteten, hatte er bald eine ansehnliche Sammlung deutscher und ausländischer Autoren angehäuft. Er liebte diese Literatur, und wenn andere einen Groschenroman lasen, dachte er bei sich, wie langweilig, denn er, wenn auch ein Halbwüchsiger, empfand das, was mancher als schwere Kost bezeichnet hätte, als spannend und lohnend. Lieber ein Buch als ein Heimabend bei der HJ, lieber ein Wochenende mit Lesen verbringen als mit dem Jungvolk draußen im Wald Soldat spielen.
Diese Ader, erzählte er später gern, habe er von seinem Vater, der auch viel las, jedoch keine Klassiker, und der während seiner Anstellung als Chauffeur des einzigen Filmtheaterbesitzers der Stadt während der dreißiger Jahre manch halbe Stunde Wartezeit zu füllen hatte, und Jahrzehnte später, als er kurz nach der Hochzeit seines Sohnes starb, fand man ihn auf dem Sofa liegend, die Hände gefaltet über einer aufgeschlagenen Ausgabe des Grafen von Monte Christo. Mitten in seiner Trauer dachte Gerd auch, wie schade, nun hat der Papa das Ende des Romans nicht mehr erfahren.
Mit achtzehn, drei Jahre vor Ende des Krieges, mußte er an die Front, erst nach Frankreich, dann nach Italien. Ihm ging es wie so vielen, die Angst begleitete ihn ständig – noch Jahrzehnte später fuhr er manchmal von Alpträumen gepeinigt aus dem Schlaf und seine Frau mußte ihm versichern, daß da kein Krieg mehr sei, es sei alles gut, er sei zu Hause in Sicherheit. Später dann, als sie tot und er bereits schwer erkrankt war, mußten seine Kinder ihm immer wieder und wieder sagen, daß die Halluzinationen, die Bilder aus dem Krieg heraufbeschworen und an denen er infolge seiner Tabletteneinnahme litt, keine Realität waren.
Was aber während der Zeit an der Front und in der Zeit vor seinem Tod und in der Zeit dazwischen, die man Leben nennt, immer real war, war die Bibliothek. die auf ihn wartete (jedenfalls meistens), und immer freute er sich darauf, sich mit seinen Büchern beschäftigen zu können.
Als Soldat las er immer von neuem die paar Bändchen, die er - im Handgepäck verstaut - hatte mitnehmen können. Es waren nur wenige, aber diese unendlich kostbar angesichts des Schreckens, der ihn umgab. Das Haus, in dem er mit seinen Eltern wohnte, wurde ausgebombt, sein Vater und seine Mutter überlebten, aber seine gesamte bis zu diesem Zeitpunkt zusammengetragene Büchersammlung wurde zerstört. Entschädigung für derlei Dinge bekam man nach dem Kriege nicht, seine Eingabe diesbezüglich wurde abschlägig beschieden.
Ihm war klar, daß er wieder ganz von vorn anfangen mußte.
Am Anfang hatte er die Angewohnheit gehabt, seine Bücher auf dem hinteren Deckblatt zu numerieren – so daß seine Tochter, wenn sie nach seinem Tode im Antiquariat stöberte und auf ein Buch traf, das sie in ihrer Kindheit im väterlichen Bücherschrank hatte stehen sehen, unwillkürlich den hinteren Einband öffnete und eine Nummer vorzufinden erwartete, aber der Zufall wollte das nie, es gab ja auch nicht nur ein Exemplar, und wer weiß, wohin der Buchhändler, an den der Nachlaß gegangen war, diesen inzwischen weiterverkauft hatte.
Als die Bücher zu einigen Tausend in speziell angefertigten Bücherschränken bis unter die Decke krochen, ließ er das Numerieren sein. Er ordnete sie nach Themen und Epochen, die schöne Literatur überwog stets die Sachliteratur, von der allerdings auch reichlich vorhanden war. Die Bücher breiteten sich überall in dem kleinen Einfamilienhaus aus, in dem er mit seiner Familie lebte, sie eroberten den Keller, Regale wurden auf dem Treppenabsatz und im Korridor angebracht, im Schlafzimmer fand sich immer noch Platz für das eine oder andere Gestell. Seine Frau kämpfte um ein Schränkchen in einer Ecke des Kellers und erhielt es, und dort brachte sie ihre Tier-, Pflanzen-, Kochbücher und Medizinratgeber unter. Ihn störte es nie, daß seine Frau seine literarischen Interessen nicht teilte, sie hatte Wichtigeres in dieser Ehe zu tun, meinte er augenzwinkernd, und die Kinder konnten das nur bestätigen, wurden sie nicht nur bestens versorgt, sondern gleichermaßen heiß geliebt. Eine Zuhörerin fand er in der älteren Tochter, die zwar nichts beisteuern konnte zu den abendlichen Gesprächen, was er nicht schon wußte, die sich aber auf diesem Wege eine solide Halb- bis Dreiviertelbildung erwarb, so wie sie nicht einmal die Schule mit ihrem Anspruch auf Allgemeinbildung bieten konnte - das war während der Sechziger. Als seine jüngere Tochter irgendwann in den frühen Achtzigern beschloß, endlich von zu Hause auszuziehen, erschien er eine halbe Stunde, nachdem sie lediglich erst einmal ihre Absicht im Familienkreise kundgetan hatte, mit einem Zollstock in ihrem Zimmer und – sie traute ihren Augen nicht - vermaß die Wände zwecks Einrichtung neuer Bücherregale.
Buchhandlungen und Antiquariate wurden regelmäßig abgegrast, Buchkataloge aus ganz Deutschland durchforstet, um Neuerwerbungen für eine Bibliothek zu tätigen, die immer mehr anwuchs und Raritäten versammelte, die nirgendwo sonst anzutreffen waren.
Wenn Gäste das Haus betraten und ob der Fülle des Gedruckten um sie herum aus dem Staunen nicht herauskamen, wußte er, daß jetzt wieder diese mit zurückgelegtem Kopf gestellte Frage folgte:
" Herr B., haben Sie die denn auch alle gelesen???" – und er erklärte, daß das, was sie meinten, nämlich ein Buch von vorn bis hinten durchzulesen, angesichts der Anzahl der Bücher, die er inzwischen besaß, nicht möglich sei.
Tatsächlich aber hatte er sehr viele wirklich ganz gelesen, und im übrigen hatte er jedes Buch, das er jemals gekauft hatte, zumindest weitgehend an- und im weiteren kursorisch durchgelesen. Er kannte sie alle, und da der Krieg ihm seinen besten Freund genommen und späterhin der Tod einen Bekannten, aus dem ein Freund hätte werden können, geholt hatte, waren seine Bücher seine einzigen Freunde.Wenn er sie von Zeit zu Zeit neu sortierte und ordnete, waren sie wie vielversprechende lebende Wesen in seinen Händen, die ihn selbst am Leben hielten. Das wurde besonders deutlich, als sein Ende kam, als er schließlich zu schwach war, um überhaupt auf eine Leiter zu steigen. geschweige denn Bücherstapel zu rücken, er konnte sich in nichts mehr selber helfen, und als ihm klar wurde, daß er sein Haus und seine Bücher würde verlassen müssen, um in ein Pflegeheim zu ziehen, sagte er in der Woche vor seinem Tod zu seiner Tochter, was soll ich dann noch auf der Welt, wenn ich meine Bücher nicht mehr sehen darf.
Während seines ganzen Lebens hatte er immer ein spezielles Heftchen bei sich getragen, in denen all die Bücher vermerkt waren, die ihm noch dringlichst fehlten und nach denen er eifrig fahndete. Und immer wieder einmal während seines Lebens hatte er die Freude, eines dieser heißbegehrten Exemplare aufzustöbern, so daß die Liste der vor seinem Tode unbedingt noch anzuschaffenden Bücher mit der Zeit immer kürzer wurde, bis nur noch circa dreißig übrig waren.
Die zu bekommen hat er nicht mehr geschafft.
Hier die Geschichte zu meinem Gegenstand
Helga Rougui
Besitzen Sie auch einen Gegenstand, der Sie schon sehr lange durchs Leben begleitet und mit dem besondere Gefühle und Erinnerungen verbunden sind?
Was ist Ihr Gegenstand? Was verbinden Sie mit ihm?
Schreiben Sie mir, wenn Sie mögen: cannelle53(at)gmail.com
Hier die Geschichte zu meinem Gegenstand;
Bildersprache
Am Ende des Prüfungstages war von der frischgebackenen Lehrerin nicht mehr viel übrig - erschöpft und gleichzeitig überdreht, erleichtert über das zwar nicht glanzvoll, aber bestandene Zweite Stattsexamen fuhr ich auf einen Sprung bei meinen Eltern vorbei, um dann mit meiner besten Freundin nicht zu knapp anzustoßen.
Am nächsten Tag: der schönste Kater meines Lebens.
Erst Tage später wurde sie mir vorgestellt. Fünfzehn mal zwanzig Zentimeter groß, den Rücken mit weichem, blauen Samt bezogen, zeigt sie den Heiligen Georg, wie er den Drachen tötet, ihm eine lange Lanze mitten in den Schlund bohrt. Auch wenn sich das Untier noch windet, der Heilige hat schon gewonnen - die Gefahr ist gebannt, das Schrecknis beseitigt, und "Mögest du so unerschrocken alle Hindernisse angehen, die dir auf deinem Lebensweg begegnen werden," so in etwa mag sich mein Vater geäußert haben, als er mir das Geschenk überreichte. Die Sonne fiel schräg in den Raum und brachte den silbernen Riza der Ikone zum Glitzern, das Relief erwachte zum Leben - der Hl. Georg starrte gebannt auf seinen Gegner - war da nicht auch ein bißchen Angst im Spiel?
Wenn ich die Ikone heute betrachte, ist mir dieser Tag, als ich Mitte zwanzig war, wieder gegenwärtig. Und meine Gedanken gehen noch weiter zurück - mit der Ikonenmalerei hatte mein Vater angefangen, als ich fünfzehn war, und er hatte seine Töchter mit dieser Leidenschaft angesteckt. Techniken wie Eitempera, Firnissen, Hinterglasmalerei wurden uns vertraut, es brauchte eine ruhige Hand und viel Geduld, um diese teils sehr fein und detailreich gestalteten Bilder zu kopieren. Mit jedem vollendeten kleinen Kunstwerk wurden wir besser.und während des Malens hörten wir die Heilige Liturgie der Ostkirche, seien es die weichen Klänge der russisch-orthodoxen Gesänge oder die etwas härteren, orientalisch anmutenden Melodien des griechisch-orthodoxen Ritus
Das Arbeitszimmer meines Vaters und jede freie Ecke im Wohnzimmer waren gepflastert mit gekauften oder selbstgemalten Ikonen in allen Größen. Einen Riza haben wir natürlich nie hergestellt, solche Ikonen wurden gekauft - und so war auch meine Examensikone eine gekaufte, ein richtiges, mein erstes richtiges Kunstwerk, perfekt in der Ausführung und passend zur Besonderheit des Ereignisses.
Meine Examensikone hat mich mein Leben lang begleitet, hat jeden Umzug, in Seidenpapier gewickelt, überstanden. Flankiert wurde sie von zwei anderen Werken.
Die eine ist eine sehr kleine Ikone, einer der allerersten Versuche meines Vaters, die ebenfalls den Hl. Georg zeigt, der segnend die linke Hand erhebt; leider hat sein etwas zu pausbäckig geratenes Gesicht einen grünlichen Farbton, so als ob dem guten Mann ein wenig übel wäre. Dieses Zeichen, daß auch meinem Vater einmal etwas mißlungen war, habe ich zu seinem Mißbehagen ebenfalls sozusagen in Ehren gehalten. Warum habe ich sie ihm nicht zurückgegeben, wenn er darum bat? Für ihn war es wie ein Spiel, immer wieder nachzufragen - ein winziges Indiz einer Unvollkommenheit, die wahrlich nicht zu seinem Wesen gehörte, war seinem Einfluß entglitten, und das amüsierte ihn.
Die andere Ikone, mittelgroß, um 1900 entstanden, sehr schlicht, kein Gold, kein Silber, keine bunten Farben, in warmen Gelbtönen gehalten, eine zärtliche Muttergottes mit dem Jesuskind, hing direkt rechts neben seinem Schreibtisch, so daß er jederzeit einen Blick darauf werfen konnte.
Auch jetzt, in meinem neuen Zuhause, hängt sie in meinem Arbeitszimmer.
Blutwurst
Helga Rougui
"Roboteddo45. Tür zu."
Mein Haushaltsrobot schloß die Tür, baute sich davor auf und blinkte abwartend.
"Roboteddo45. Tür zu von außen."
Ihre Glasaugen blitzten rot auf, sie öffnete die Tür, verließ mein Arbeitszimmer und zog sie leise hinter sich zu.
Manchmal war ich mir nicht sicher, ob diese Dinger nicht doch denken konnten und mehr registrierten, als meiner Privatsphäre guttat. Aber sie waren so normal, wie es Zahnseide früher gewesen war, in dieser Welt des Jahres 2278, in der niemand mehr selber putzte, kochte, Wäsche wusch, in der es keine Arbeit, keine Kinder, keine Krankheiten, keine Außenwelt mehr gab.
Wir, die gutbetuchten Übriggebliebenen, saßen in den unterirdisch angelegten Städten, die geniale Stadtplaner direkt nach der Großen Katastrophe entworfen und mit wessen Hilfe auch immer erbaut hatten. Gut, daß wir uns nicht mehr fortpflanzen konnten - so reichte der anfangs vorhandene Platz, und die Wohnebenen hatten später nicht ausgeweitet werden müssen.
Durch die chemische Umstrukturierung unserer DNA hatten wir vermutlich eine überdimensional lange Lebenserwartung - wie lang, das wußte keiner, die Katastrophe war ja erst circa zweihundertfünfzig Jahre her und noch war keiner von denen, die sich damals für teuer Geld unter die Erde gerettet hatten, gestorben, und es war seitdem auch niemand krank geworden oder fühlte sich sonstwie unwohl. Außerdem ernährten wir uns alle bio-soja-vegan-laktosefrei. Das war schon eine Garantie ansich, daß wir uns möglicherweise perpetuieren konnten bis in alle Ewigkeit. Nur die Roboteddos, die uns die lästige Alltagsschinderei abnahmen, übertrafen uns womöglich an Langlebigkeit.
Jetzt aber mußte ich dringend allein sein. Ich mußte nachdenken.
Die Anwesenheit meines Haushaltsrobots würde mich nur nervös machen - nicht, daß ich etwas Illegales im Sinn gehabt hätte, das sicher nicht - ich gehörte schließlich zu denjenigen, die tief im Erdkern ihre Wohnkugel hatten. Meine WK lag in der - 43. WohnEbene. Dort waren die besten Lufterzeuger und Klimamaschinen installiert, die die Atmosphäre wie vor der Großen Veränderung gestalteten. Die armen Schweine, die in den erdoberflächennahen Ebenen existieren mußten, hatten oft zu kämpfen mit den Ausdünstungen der Katastrophe, die uns in den Untergrund getrieben hatte. Dort befanden sich sämtliche Wohn- und Laden-Kugeln sowie die Nahrungspillenausgabestellen. Diese Pillen waren - natürlich, wie schon erwähnt - bio-soja-vegan-laktosefrei.
Ich weiß alles über diese Pillen.
Ich war es, der sie im Jahr 2032 erfunden hat.
Ohne meine Erfindung wären wir verhungert. In unserer neuen Lebenssituation war kein Platz für Farmen, Felder, Weiden, Wälder, Schlachthäuser und Misthaufen.
Also fand ich mich eines Morgens mit einer stattlichen Million Euro auf dem Konto wieder - diese Summe wuchs mit der Zeit, da ich prozentual am Vertrieb beteiligt war. Der Euro war die neue Weltwährung seit dem Untergang Amerikas im Jahre 2024, verschuldet durch einen gewissen Donny Tramp (schillernder Typ, über den niemand mehr etwas Genaues weiß) - und der Übernahme der Weltherrschaft durch Europa unter der Führung unseres unsterblichen Königs Olaf der Erste und der Letzte.
Heute also im Aufzug 16:45/nach untenWE -43/WK100456 hatte ich hinter zwei Personen gesessen, vermutlich weiblichen und männlichen Geschlechts, und ich hatte bemerkt, daß sie eine kleine, halb geöffnete Tasche zwischen sich stehen hatten.
Ich war neugierig und reckte den Hals. Was war das da drin? Konnte das sein? So was gab es doch heutzutage gar nicht mehr?
"Was habt ihr da?" platzte ich mit meiner Frage heraus.
Gleichsam überrumpelt antwortete der weibliche Teil des Pärchens:
"Das ist - eine Leberwurst. Die haben wir von ALL-DIE."
Was war das, dieses ALL-DIE? Und Wurst? Jahrzehntelang hatte ich keine Wurst mehr gesehen.
***
Fröstelnd trat ich ins Freie, und damit meine ich, wirklich ins Freie, nicht in den angenehm gedämpften Schutzraum eines illuminierten, mit samten temperierter Luft ausgestatteten unterirdischen Korridors. Nein, diese Luft hier war echt und sauer, sie kratzte bei jedem Atemzug im Hals und in den Lungen.
Im Aufzug hatten mir Leo und Marina - verstohlen und im Flüsterton - Erstaunliches berichtet.
Auf der Ebene 0 gäbe es eine Subkultur - ohne klimatisierte Wohnkugeln, ohne Roboteddos, ohne automatisierte Dienstleistungsvorgänge, ohne Nahrungspille - stattdessen gäbe es ALL-DIE. Dort gäbe es all die Dinge, die es eigentlich nicht geben durfte, weil sie ungesund, lebensverkürzend, unnatürlich, zuckerig und fettig waren - und Eierlikör gab es dort auch.
Außerdem hatte ich so nebenbei erfahren, daß es auf der ungeschützten Erdoberfläche eine beträchtliche Population gab, die zur Zeit der Großen Katastrophe zu arm gewesen war, um sich unter der Erde einzukaufen und deshalb oben um ihr Überleben gekämpft hatte - mit Erfolg, wie es schien.
Ich stemmte mich gegen den scharfen Wind und hob mein Gesicht einem leichten Sprühregen entgegen. Mein Gott, war das authentisch. Aufregend. Wohl auch etwas unangenehm. Aber insgesamt schmeckte die Luft besser als die auf meiner Wohnebene, die mir plötzlich abgestanden und tot vorkam.
Ich fühlte nach dem dicken Bündel Geldscheine, das die Tasche meines Mantels ausbeulte.
Eine Million Euro - warum hatte ich mir das Geld bar auszahlen lassen?
Der Sicherheits-Roboteddo hatte mich seltsam angeguckt, als ich als letzter und einziger Passagier bis zur Ebene 0 hochfuhr. Die Türen des Aufzugs hatten sich geöffnet, ich war hinausgetreten, keine Alarmglocke schrillte, niemand hielt mich zurück, der Aufzug schloß sich hinter mir und ich war allein.
Es war tatsächlich so einfach.
Die Angst, überwacht zu werden, die mich all die Jahre im Zaum gehalten hatte, entbehrte einer realen Grundlage. Sie war tatsächlich ganz und gar allein die meine gewesen, tief verwurzelt in mir.
Ich marschierte los.
Ich fand die anderen, die nicht in einer unterirdischen Kunstwelt lebten. Ich fand auch dieses ALL-DIE.
Ich kaufte mir dort einen Ring Blutwurst.
Er kostete eine Million Euro - die Preise waren offensichtlich seit zweihundert Jahren etwas angestiegen.
Ich suchte mir eine Parkbank, verzehrte die Wurst, es wurde Abend, und ich hatte keinen einzigen Euro mehr.
Ich hatte meine Wahl getroffen.
Was als nächstes käme, wußte ich nicht.
Aber egal was es war, es würde mir schmecken.
Auch wenn ich dafür würde hart arbeiten müssen.
Hauptsache, frei.
Frei, das zu tun, was ich will.
Könnten Sie einem Ring Blutwurst widerstehen?
Wenn ja, dann stimmt etwas mit Ihnen nicht.